Mein Opfer Sein

Es ist schon lange her, als ich einstmals von meiner Schule daran gehindert wurde, meine Bildung zu erweitern. Die erweiterte Oberschule, ich träumte von ihr, war mir nicht gestattet zu besuchen. Abitur durfte ich nicht machen. Mit den anderen meiner Klasse durfte ich nicht mitgehen. Es waren, ein Zufall ?, plötzlich so viel. Das lag nicht an meinen Leistungen. Sie hätten gereicht. Es war wie eine zusätzliche Demütigung. „Dich wollen wir nicht. Aber andere, selbst Schlechtere, denen geben wir gerade Deinetwegen eine Chance.“ Ich fühlte mich ausgegrenzt, und weggestoßen. Tief betroffen und verbittert vergrub ich mich in mir selbst.

 

 

Nur die wenigsten von denen, die an meiner Stelle aus meiner Klasse zur Erweiterten Oberschule delegiert waren, haben sie gemeistert. Die meisten gingen nach der 10. Klasse dort wieder ab. Das war mir eine kleine Genugtuung. Ein verräterischer Fingerzeig, den ich damals nicht deuten konnte, nicht deuten wollte. Die Schule hatte mir nicht nur das Abitur verweigert, sie hatte mich in eine emotionale Falle gelockt, aus der ich Jahrzehnte nicht herauskommen sollte.

 

 

Ich hätte das Abitur auf der Volkshochschule machen können. Doch fühlte ich mich dazu nicht motiviert. Wer sagte mir denn, dass die Methoden der Bildungsdiskriminierung, wie ich sie hier erlebte, danach nicht weiter angewandt würden? Dennoch bemühte ich mich während meiner Lehrausbildung um solch einen Abiturplatz an der VHS, vergeblich leider. Diesmal verweigerte mir mein Ausbildungsbetrieb VEB Datenverarbeitung der Finanzorgane, wo ich eine Lehre zum Facharbeiter für Datenverarbeitung absolvierte, die Delegierung. Die Argumente waren sogar nachvollziehbar. Natürlich hatte ich nicht die besten Leistungen. Aber woran lag das denn ?

 

 

Nach meiner NVA-Zeit hätte ich keine Delegierung mehr gebraucht. Doch jetzt war ich so in mir selbst versunken, war ich so in meine Rolle als Opfer eingetaucht, dass ich beschloss diesem Staat DDR keine weiteren Jahre meiner Lebenszeit in den Rachen zu schmeißen. Aus der Fremddiskriminierung war eine Art Eigendiskriminierung geworden.

Noch zwei Erfahrungen von Bildungsdiskriminierung habe ich gemacht.

Am Ende entschied ich mich aus pragmatischen Gründen, eine Fachschulausbildung zum Ingenieur für Informationsverarbeitung zu beginnen. Ehrgeiz oder Romantische Träume spielten jetzt keine Rolle mehr. Ich musste die Familie ernähren. Meine Spontijahre waren vorbei.

 

 

Doch wie zum Trotz erwies sich dieses Studium als das Beste, was ich hatte machen können. Es war als hätte mein Kopf nur darauf gewartet, endlich wieder mal benutzt zu werden. Der Alltag im Betrieb und in meiner Freizeit hätte mir nie diese Freude am Lernen und Verstehen vermitteln können, wie dieses Studium.

Ich habe noch lange gebraucht, um aus meiner Opferrolle herauszutreten. Sie hat mir vieles schwer gemacht.

 

 

Ich bin nicht der einzige, der mit sich als Loser haderte.

Ich habe einen Freund, einen Schauspieler, der unter den DDR-Haftbedingungen, er hat als Politischer anderthalb Jahre gesessen, sein Gedächtnis verloren hat; sein Werkzeug, seine Arbeitsgrundlage. Er muss ein phantastisches Gedächtnis besessen haben. Von so etwas konnte ich nur träumen. Das hatte ich nie. Er ist über diesen Verlust nicht hinweggekommen. Zumindest hat er sein Gedächtnis nicht wieder neu aufgebaut.

 

 

Von Yehudi Menuhin ist bekannt, dass er in Folge einer schweren Krankheit als Jugendlicher seine traumhaften Geigenspielfähigkeiten verlor. Mit viel Ehrgeiz und seinem Verstand hat er sie sich wieder neu erarbeitet. Das hat lange gedauert. Er hat wieder Konzerte gegeben und die Menschen in der Welt begeistert, auch wenn Kenner behaupten, dass er an seine Wunderkindjahre nicht habe anknüpfen können. Das mag sein. Unser Gehirn kann Verlorenes wohl nicht wieder zurückgewinnen. Es kann es ersetzen, es kann Neues bauen. Das ist seine Verheißung. Verluste können nicht wettgemacht werden. Traumata kann man nicht wieder gut machen. Man kann sie zur Vergangenheit erklären und an seiner Zukunft basteln.

 

 

Ende der Predigt. 

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