Prolog
Henning Rosen, der langjährige Büroleiter von Willy Brandt, hat mich gestern angerufen. Er war bei seinem Archiv-Studium im Bonner Archiv der Sozialen Demokratie, auf Gunter Weißgerber gestoßen, der ebenfalls in Sachen Aktenstudium unterwegs war. Und so kam es zu einem Austausch über die Rolle der ostdeutschen Sozialdemokraten bei der Vernichtung von MfS-Akten, insbesondere über die HVA, also die Hauptverwaltung Aufklärung, jener MfS-Hauptabteilung also, die im Auftrag der SED und in Zusammenarbeit mit dem KGB für die DDR Auslandsspionage betrieb, und von deren Akten nur geringe Bestände übrig blieben, deren restlose Vernichtung dem MfS bei seinem strategisch betriebenem Rückzug nicht gelungen ist.
Henning Rosen hatte einen konkreten Hintergrund für seine Nachforschungen. Auf Willy Brandt war nicht nur einst Guillaume angesetzt gewesen; jener MfS-Mann, dessen Enttarnung letztlich zum Rücktritt von Brandt 1973 als Bundeskanzler führte. In seinem Büro fand auch ein weiterer MfS-Agent eine Anstellung. Es handelt sich um einen Mann namens Hirsch, der dort von 1976 bis 1986 gearbeitet hat. So wie ich Rosen verstanden habe, scheinen er und Brandt von dessen MfS-Hintergrund gewußt zu haben, bzw. davon ausgegangen zu sein. Dass daraus ein Interesse an den HVA-Akten entsteht, ist sonnenklar; genauso wie die Verärgerung die bei der Vorstellung entsteht, dass die SPD bei dieser Aktenvernichtung noch Pate gestanden habe.
Gunter Weißgerber hat dem widersprochen, und auf mich verwiesen. Ich gehörte in der Tat 1989/90 zum Führungskreis der Ost-SPD, war aber nur am Rande in das Geschehen des Runden Tisches eingebunden. ich kann also gewissermassen nur aus zweiter Hand berichten.
Hintergrund
Mit den Massendemonstrationen, die die friedliche Revolution einleiteten, wußte das MfS was die Stunde geschlagen hatte und begann faktisch sofort mit der Vernichtung ihrer Aktenbestände. Wegen der Dynamik der Ereignisse und der schieren Masse der Aktenbestände mußten die Genossen von der Firma strategisch vorgehen. Sie wollten nicht ans Licht der Öffentlichkeit gezogen werden, ihre Inoffiziellen Mitarbeiter schützen und sich selbst vor strafrechtlicher Verfolgung. Das rückte die Akten über die Observierung der Opposition und der Westarbeit der Stasi in den Focus der Schredderer.
Diese Vernichtungsarbeit durchlief verschiedene Phasen, und zeigte sich sehr anpassungsfähig an die jeweiligen politischen Gegebenheiten in der damaligen Zeit. Anfangs ging sie relativ ungestört voran. Schwieriger wurde es, als Demonstranten vor die MfS-Zentralen marschierten, und diese zu besetzen trachteten. Doch gelang es dem MfS, den Besetzern eigene Leute unterzujubeln. Mit den dann installierten Bürgerkommitees wurde die Zusammenarbeit sogar institutionalisiert. Die Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch gestaltete sich dann schon schwieriger. Mit dem letzten Innenminister der demokratisch gewählten letzten DDR-Regierung, Peter-Michael Diestel, hingegen lief es fast reibungslos. Die westdeutsche Kohl-Regierung hatte auch kein Interesse an der Aktenöffnung, sie bemühte sich sogar um eine Amnestie für die ehemaligen Genossen des MfS. Und die ganze Zeit über wachten hochrangige ehemalige Stasi-Obristen über die Aktenbestände bis hin zur Jahrtausendwende. Auch Gauck schob dem keinen Riegel vor.
Es ist kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen wertvolle Aktenbestände unwiderbringlich verloren gingen. Fachleute schätzen den Verlust auf insgesamt 50% des ursprünglichen Bestandes der MfS-Akten ein.
Und es wird auch deutlich, wie schwierig es war, sowohl die Aktenbestände zu sichern, als auch die Öffnung der Stasi-Archive für die Aufarbeitung durchzusetzen. Das muß man wissen, wenn man die Auseinandersetzung des Runden Tisches mit der Modrow-Regierung um die Zukunft der Stasi-Akten einordnen will.
Der Runde Tisch war kein Verfassungsorgan. Er hatte eine Kontrollfunktion gegenüber der letzten kommunistischen DDR-Regierung unter Modrow, und sollte so die Übergangszeit bis zu den ersten freien Wahlen, die er selbst vorbereitet hat, zu stabilisieren. Modrow versuchte anfangs den Runden Tisch zu ignorieren, was ihm aber nicht gelang. Unter Druck sah er sich gezwungen mit dem Runden Tisch zu kooperieren, und versuchte ihn in seine Strategie der Überwinterung des Stasi-Potentials bzw. der Auflösung der Stasistrukturen einzubinden.
Anekdote
In dem Zusammenhang gibt es zwei konkrete Vorgänge zur Erhellung der Vernichtung der HVA-Akten. Sie sind miteinander verzahnt und stammen aus der zweiten Hälfte des Februar 1990.
1. Am 16.Februar 90 existierte auf der Sitzung des Runden Tisches eine Beschlußvorlage zur Vernichtung des elektronischen Aktenbestandes der HVA, die auch die Unterschrift von Dankwart Brinksmeier trug, der an diesem Tag für die SPD an den Gremiensitzungen des Runden Tisches teilnahm. Eine kleine Redaktionsgruppe, an welcher Martin Gutzeit und Konrad Weiß teilnahm, bemühte sich, diese Beschlussvorlage zu entschärfen, um zu verhindern, dass es zu einer endgültigen Aktenvernichtung kommen würde. Deshalb wurde der Beschlußvorlage eine Erweiterung angefügt. Bevor die elektronischen Akten vernichtet werden durften, sollten sie komplett ausgedruckt werden.
In dieser Fassung wurde die Beschlußvorlage vom Runden Tisch an die Unterarbeitsgruppe, der AG Sicherheit überwiesen. Diese hat sie dann mit 7 zu 5 Stimmen beschlossen und sie an den eigentlichen Runden Tisch zurückgehen lassen. Dort aber wurde sie auf der nächsten turnusmäßigen Sitzung am 23. Februar nicht mehr behandelt.
2. Vor diesem Hintergrund zog es Modrow vor, mit dem Runden Tisch seinen Wunsch, dieser möge der Vernichtung der kompletten HVA-Akten zustimmen, nicht mehr zu besprechen.
Was weiter geschah, stammt aus dem Mund von Modrow selbst, erzählt - ich nehme an, mit einem leichten Grinsen - auf einer Veranstaltung des Berliner LStU (Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen): Danach habe er, Modrow zwei Theologen am Runden Tisch ins Vertrauen gezogen, um sich von ihnen das weitere Vorgehen in Sachen HVA absegnen zu lassen. Beide seien zum Zeitpunkt der Veranstaltung schon verstorben.
Umzug ins Nichts
Folgendes ist nach Modrow passiert. Für die Akten der ehemaligen HVA stand ein Umzug an. Sie sind aus ihrem alten Domizil abtransportiert worden, und im Neuen nicht mehr angekommen.
So verschwanden die Akten der HVA aus der Zeitgeschichte mit erheblichen Folgen für die lückenhaften Aufklärung der Westarbeit der Stasi.
Und so fand auch Henning Rosen nichts in den Beständen des BStU über den zweiten Spitzel, den das MfS bei Willy Brandt hat unterbringen können, diesen Mann namens Hirsch.
Epilog
Rosen erzählte mir, dass sie damals, als sie diesen Mann namens Hirsch auffliegen ließen, über Peter Glotz, dem damaligen Bundesgeschäftsführer der SPD beim Bundesanwalt vorstellig wurden. In dem Zusammenhang entstand ein Kontakt zu einem der westdeutschen Geheimdienste, höchstwahrscheinlich das Bundesamt für Verfassungsschutz, BfV. Dieser hätte von den Stasi-Kontakten ihres Mitarbeiters Hirsch gewußt. Das heißt, das BfV wußte die ganze Zeit, dass auf Brandt, damals noch der Vorsitzende der SPD, ein zweiter Stasi-Spitzel angesetzt war.
Die Bundesanwaltschaft habe dann ein Ermittlungsverfahren gegen Hirsch eingeleitet, zur Anklageerhebung kam es jedoch nicht, angeblich aus Krankheitsgründen des potentiellen Angeklagten.
Das will ich hier nicht interpretieren. Auch die Vermutung von Henning Rosen darüber, was Hirsch wirklich gewesen sein könne. In drei Jahren endet die Sperrfrist über die westdeutschen Akten dieses Mannes. Vielleicht weiß Rosen dann mehr.
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Pedro Hertel (Montag, 24 Oktober 2016 09:11)
Der Umzug ins Nichts war ein streng bewachter Lastwagenkonvoi nach Rumänien.
joachim goertz (Montag, 24 Oktober 2016 23:57)
die frage ist ja, warum der Runde Tisch am 23.2. sich nicht mehr mit der Beschlussvorlage zu den elektronischen datenträgern beschäftigt hat.
und gab es nicht doch irgendeinen beschluss zumindestens der ag sicherheit zu den hva-akten?
ego (Dienstag, 25 Oktober 2016 15:06)
Ich weiß das nicht.
Und es ist ja nicht die einzige Frage, die offen ist.
Und es ist kaum Literatur darüber. Im Grunde müßte dringend die Strategie der Stasi zu ihrer Selbstauflösung beschrieben werden. Wer waren die politischen Auftraggeber, welche Linie verfolgten sie? Wie haben sie sich organisiert? Wer waren die Akteure? Das sind spannende Fragen. Ich kenne nur ganz wenige Namen, Schwanitz, Becker, Modrow, usw., die definitiv damit zu tun hatten.
Stephan Hilsberg