Grillparzers Parlamentserfahrung

Als ich heute morgen, kurz bevor mein Wecker mich zum Tagwerk rufen würde, nicht schlafen konnte, und schnell noch einen Blick in meine Lektüre warf (Grillparzers Reisebericht über Frankreich) stach mir wegen seiner Ähnlichkeit mit meinen Bundestagserfahrungen Grillparzers Bericht über die französische Nationalversammlung, die er bei seinem Pariser Aufenthalt 1836 während einer ihrer Sitzungen besucht hatte, ins Auge: 

„Der Anfang sollte um zwei sein. Es war aber noch kaum jemand da. Um halb drei kam der Präsident, den die Wache mit Trommelwirbel empfing. ….. Nach und nach kamen auch Deputierte, in allem wohl einhundert oder so. Ein Greffier (Protokollführer) trat auf die Tribüne und las etwas vor. Wahrscheinlich die gestrige Verhandlung. Die Deputierten schwatzten, der Präsident schwatzte, und der Greffier, der das wußte, murmelte nur, fast ohne den Mund zu bewegen. Endlich nahm das Gelese ein Ende. Nun hatte man aber Teufelsmühle, die Deputierten auf ihre Plätze zu bringen. Endlich gelang es, und die Sitzung fing an. Sie war ohne Interesse. Der Gegenstand nicht unwichtig, den es handelte sich um die Entschädigungen für Privatgüter, die zum Behuf öffentlicher Arbeiten in Anspruch genommen würden. Die meisten schrieben Briefe oder schwatzten, so dass der Präsident wiederholt klingeln mußte, damit die Redner nur verstanden würden. Alle Reden kurz, mitunter nicht ohne Stottern. Am besten sprach einer von der Opposition von seinem Sitze aus. Ziemlich jung, mit einer kräftigen hellen Stimme. Von den Ministern, deren drei zugegen waren, sprachen zwei. Einmal der Finanzminister .. , wie es schien ohne zu überzeugen.“

 

Das ganze liest sich wie eine Karikatur, und wird doch genauso geschehen sein; die allgemeine Unruhe, und das demonstrative Desinteresse am Tagungsgegenstand, den Mangel an rhetorischen Fähigkeiten, die Fähigkeiten eines Oppositionellen, Pflichtübungen, wo Leidenschaft bewundert werden will. 

 

Das Volk mag dieses Verhalten seines Parlamentes nicht. Man kann es ihm auch nicht nahebringen. Mir zumindest mir ist das nie gelungen. Das Volk empfindet in diesem Verhalten seiner Parlamentarier eine Respektlosigkeit voreinander und vor dem Souverän, die es übelnimmt. Es nimmt den parlamentarischen Alltag manchmal sogar als Schmierenkomödie wahr, wie er von Grillparzer im übrigen hier auch genau so gezeichnet wurde.

 

Und eine gewisse Respektlosigkeit steckt auch darin. Aber das ist kein Mangel im System. Das funktioniert trotzdem ganz gut, besser als jede andere Staatsform. Aber dennoch wächst aus diesem respektlosen Verhalten kein Vertrauen.

 

Es ist erstaunlich, dass beim Volk nicht die Erfahrung, nicht die Funktionalität des parlamentarischen Ablaufs zählt, sondern die innere gefühlsmäßige Wahrnehmung. Wir haben es hier eben mit zwei unterschiedlichen Perspektiven auf ein und den gleichen Gegenstand zu tun. Für den Zuschauer ist das Parlament hohe, fast immer schicksalhafte Politik. Für den Parlamentarier geschäftsmäßiger Alltag. Der Zuschauer will Drama, Seriösität, Ernsthaftigkeit bewundern und bestaunen. Der Parlamentarier will einfach nur seinen Job machen und eben genau nicht Theater spielen. Die Würde des Hauses erfährt der Parlamentarier nur bei herausgehobenen, hochdramatischen Debatten oder bei emotionalen Feierstunden. Ansonsten ist ihm das Parlament nicht selten auch reine Routine, etwa wie Küchenarbeit, die auch nur selten einen schicksalhaften Rang einnimmt, obgleich sie souverän und effektiv bewältigt werden will, was man aber dieser Art von Tätigkeit nur selten ansieht.

 

Im übrigen verhalten sich die Parlamentarier wenn sie zusammen sind, so wie jede Gruppe von Menschen, die viel miteinander zu tun haben, wie man es in jeder Schulklasse, in jedem Kollegium beobachten kann: Schwatzhaft, auf Unterhaltung aus, jederzeit zu Scherzen aufgelegt, und ihrem Chef respektlos gegenüber. Und doch verkörpern sie auch immer ihren jeweiligen Lebensabschnitt, den sie nicht selten mit Bravour meistern.

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