Der Keller

Er war so tief im Keller, dass er sich zu fragen begann, ob Anlass und Ursache vielleicht doch zweierlei wären.

 

Nachts hatte ihn seine Frau, und zwar boshaft und absichtsvoll, mal wieder sehr geärgert. Ihr Kontrollzwang und Besserwisserei hatte sich gegen seine Bitten durchgesetzt. Sie nahm das Navi von der Windschutzscheibe ab, und legte es auf den Boden vom Auto, das aber ihm gehörte, das er bezahlt hatte, das er fuhr, das er pflegte, das er reparieren ließ, kurz, das nur seinetwegen überhaupt existierte. Sie entmachtete ihn in seinem eigenen Auto. Sie wusste, was sie tat. Sie wollte ihn ärgern. Sie war wieder obenauf. Nach dem letzten Streit, als sie ihn angefaucht hatte wie eine Großkatze, hatte er sich geschworen, dass er sie verlassen würde. Diese Stimmung hatte etwas Tröstliches. Natürlich tat er das nicht sofort. Aber diese Stimmung stabilisierte ihn. Und es war ihm Ernst damit.

 

Gestritten hatten sie sich immer, seit Beginn ihres Zusammenlebens. Und er hatte die gesamten Jahrzehnte der gemeinsamen Ehe damit zugebracht, nach Strategien zu suchen, wie Frieden in ihr Leben Einkehr halten konnte, wie man Konflikte löst ohne sie eskalieren zu lassen, und wie er sich behaupten würde können, ohne Scherbengerichte zu produzieren.

 

Das hatte selten geklappt. Doch phasenweise war ihr Zusammenleben von großer Vertrautheit und Harmonie geprägt gewesen. Er mochte seine Frau; ihren Stolz, ihr Selbstbewusstsein, ihre Widerstandsfähigkeit, ihre Kinderliebe. Er bewunderte sie auch. Aber sie bekämpfte ihn. Ihre Auseinandersetzungen hatten auch immer den Charakter von Machtkämpfen. Immer ging es auch um Dominanz und Durchsetzungsfähigkeit. Ihm war das zu wider. Er wollte Partnerschaft, nicht Unterordnung. Sie wollte sich. Sie war an einer gemeinsamen, rationalen Untersuchung dieses Problems gar nicht interessiert. Sie wollte einfach, dass er tat, was sie sagte. Er hatte das nicht selten gemacht. Schon um des Friedens willen. Es war immer falsch gewesen. Dann hatte er begonnen, seinen eigenen Weg zu gehen. Und da wurde es schlimmer. Er begann vollendete Tatsachen zu schaffen. Er hörte auf seine innere Stimme. Er legte ihr gegenüber seine Angst ab. Er nahm sein Leben in die eigenen Hände, was eine insgesamt beglückende Erfahrung war, ihn aber auch zunehmend von seiner Frau entfernte. Und die ließ ihn das spüren.

 

Ihre Versuche, ihn weiter in der Hand zu behalten wurden aggressiver. Er hatte eine Methode entwickelt, Eskalationen zu beenden, ja gar nicht mehr entstehen zu lassen. Er konnte auch gegenhalten, wenn sie ihn mal wieder zu beschimpfen begann: Tiraneien ohne Grund und Ende. Er frug sich immer, was seine Frau eigentlich bewegte, ihn dermaßen schlecht zu machen. Sie konnte Stunden damit zu bringen. Was brachte ihr das? Befriedigung? Eine Lösung war das nicht. Denn Vertrautheit entsteht nicht unter Bedingungen des Beschimpfens.

 

Der Sex, der ursprünglich schöne Sex, zog sich in ihm zurück. Viele Jahre betrieb er ihn als Pflichtübung. Doch er war immer seltener befriedigend. Seine Libido erstarb nicht selten bereits am Beginn des Liebesspiels. Im letzten halben Jahr gab es keinen Sex mehr. Er hatte sein ganzes Leben seine Ersatzbefriedigung. Und er konnte sich selbst befriedigen, nicht unbedingt, wann immer er wollte, aber doch häufig.

 

Das alles begleitete ihre Ehe nun schon lange. Und doch liebte er sie. Dachte er. Fühlte er.

 

Er hatte sich zweien seiner Freunde anvertraut, ihnen von seinem Unglück erzählt, denn unglücklich machte ihn diese ganze Geschichte. Sie pflichteten ihm beide bei. Sie kannten seine Frau. Auch sie fanden sie toll, aber sie wussten wie sie war, und fühlten wie sie sein konnte. Eine Frau, die zumacht, die sich nicht öffnet, die dominieren will, die sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt, die herrlich erzählen konnte, ungemein unterhaltsam war. ..

 

Seit er angefangen hatte sich zu emanzipieren, hatte sich die Beziehung zu seiner Frau geändert. Gerade weil er sich an ihrer Streitlust nicht mehr beteiligte, konnte er nun beobachten, wie seine Frau gelegentlich der Hafer stach, wenn sie Streit suchte. Das geschah in der Regel aus heiterem Himmel. Sie wusste genau, wie sie ihn ärgern konnte. Und sie tat das immer wieder. Aber sie erreichte ihre Ziele immer seltener. Er finanzierte sie nicht mehr. Er plante seine Zeit ohne sie. Er hörte auf ihr ihre Wünsche zu erfüllen. Aber er kündigte die Ehe nicht auf, obwohl er immer wieder nahe dran gewesen war. Das war erst bei der letzten Provokation passiert. Das hatte ihm geholfen, dass er schneller wieder aus dem Keller heraus war.

 

Dieser Keller war fürchterlich. Es war ein Verließ. Er war dunkel, dumpf und tief unten. In seinem Herzen rumorte es. Sein Puls war hoch, das Herz hämmerte, jegliche Lust war ihm vergangen, Interesse, Lust an irgendwelchen Tätigkeiten, irgendwelcher Arbeit: Null. Manchmal lag er nachts wach über mehrere Stunden. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf, ohne ein Ende zu finden. Er empfand sich als Opfer und wusste doch, wie unproduktiv das war. Früher hatte er bei derlei Gelegenheiten mal an Selbstmord gedacht. Aber das war inzwischen lange her. Die Gefahr war vorüber gegangen, ohne sich realisiert zu haben. Das hatte er erreicht, und das verdankte er seiner eigenen Lebensentscheidung.

 

Es konnte auch am helllichten Tag passieren. Er war empfindlich, sicher. Männer sind häufig empfindlicher als Frauen. Ohnehin ist das Gerede vom weiblichen, schwachen Geschlecht, eine zweckdienliche, völlig unrealistische Legende. Er wusste das inzwischen besser.

 

Kurz er lebte selbständiger, froher und selbstbestimmter. Aber dieser Keller tat sich immer wieder auf. Inzwischen wusste er, wie er reagieren würde. Er wusste, wann dieser Strudel in den Keller begann, konnte das diagnostizieren, kannte die Symptome. Beim letzten Mal saß er in seinem Zimmer und wusste genau, dass nun an nichts anderes mehr zu denken war. Er verließ die Wohnung, ging spazieren, ging in eine Ausstellung und wartete darauf, dass wieder innerlich Ruhe eintrat, dass der Sturm von Gedanken, Gefühlen sich legen würde. Dass er in Ruhe nachdenken konnte, und sich überlegen, was er nun als nächstes tun würde.

Er war völlig unschuldig an diesem Konflikt. Seine Frau war aus heiterem Himmel in sein Zimmer gestürzt und hatte ihn mit Vorwürfen überschüttet. Sie hatte auf ihn keine Rücksicht genommen, nicht gefragt, ob er Zeit hatte, ob sie sich mal unterhalten könnten, dass sie ein Problem hätte. Nein sie hatte ihn förmlich überschüttet, spontan und direkt.

Das hatte nicht lange gedauert. Der Trigger in ihm, das Ticket für die Fahrt in den Keller war bereits gelöst, der Zug fuhr bereits. Noch war der Strudel langsam, aber er drehte sich bereits. Und er wusste wo das enden würde. An Weiterarbeiten, an seiner künstlerischen Tätigkeit war nicht mehr zu denken. Und er wurde wütend. Und er fand Befriedigung an der Vorstellung, dass das hier das letzte Mal gewesen sein würde. Dass sie ihn niemals mehr würde anfauchen: „Das wird nicht mehr passieren!“

 

In der Ehe herrschte Funkstille. Er redete nicht mehr mit ihr. Er begleitete sie nicht mehr. Er telefonierte nicht. Wenn sie anrief, war er kurz angebunden, und beendete die Telefonate schnell.

 

Und Ruhe stellte sich ein. Die Zeit heilt, auch seelische Wunden. Es war eine schöne Ruhe, aber sie war auch trügerisch. Sie war keine Sicherheit. Der Moment kam aber, wo er sich nach ihr wieder zu sehnen begann. Das war wohl bei ihr auch der Fall. Ohnehin konnte sie tun, als sei nichts gewesen.

 

In diesem Kreislauf war ihr gemeinsames Leben gefangen.

 

Und nun diese Wendung in der letzten Nacht. Er hatte keine Angst davor gehabt. Seine Erfahrung sagte, ihm dass das kommen würde. Sicherlich. Fast zwangsläufig.

Für manch einen mag das eine Bagatelle sein. Ist es auch. Aber wenn das immer wieder passiert, wenn man die Absicht merkt, wenn es wehtun soll, wenn Aggressivität und Machtstreben, die Lust am Konflikt wieder durchkommen, dann steht das alles in einem anderen großen Zusammenhang. Dann wird der Kampf wieder deutlich, in welchem er sich mit ihr befand.

 

Der Keller war nicht sofort da, aber er kam, beharrlich und unabwendbar.

In der Psychologie ist es so, dass dieser Keller seine Ursache nicht in der Ehe hat, sondern in eigenen unverarbeiteten Traumata.  Kurz, seine Frau war aggressiv und wollte ihn in der Hand behalten. Aber das war nicht die Ursache für den Keller, in den sie ihn damit schickte.

 

Da war es möglich, dass es irgendeine Begebenheit gab in seinem Leben, die in ihm das Gefühl weckte, selbst verantwortlich zu sein, für diesen Sturz in den Keller. Seine Seele führte ein Eigenleben an dieser Stelle. Sie konnte nicht reden. Bzw. er musste sich Mühe geben, sie zu verstehen.

 

Er hatte sich so viel Mühe gegeben, so vieles aufgedeckt, aber diesen Keller hatte er bisher nicht entschlüsseln können.

 

Und wenn man scheinbar grundlos angegriffen wird, wenn der Partner einem wehtun will, dann ist es kein Wunder, dass man von einer eigenen Ursache in diesem Moment eher nicht ausgeht. Die Psychologen empfehlen das zwar. Aber es ist doch sonnenklar, wenn jemand auf Dich einsticht, bist Du auch nicht verantwortlich. Und mit so einem Menschen sollte man auch nicht zusammenleben. Was zu viel ist, ist zu viel.

 

Im Keller der letzten Nacht hatte er die Trennung wieder neu erwogen. Aber sie schien ihm doch  weit weg, zwar möglich und hilfreich, und vielleicht auch realistisch, aber im Moment doch nicht eine wirkliche Lösung zu sein. Vor allem keine Erklärung.

 

Und so begann er sich zu fragen, was sein eigener Anteil an diesem Keller sein könnte. Ob da irgendetwas in ihm schlummert, das ihn aus eigenen Stücken da runter wirft. Kurz ob seine Frau eine Stelle an ihm berührt, wo  er ein schlechtes Gewissen hat.

 

Und er brauchte nicht lange, um solch eine Stelle zu entdecken. Sie hatte mit Sex und Moral zu tun. Er fühlte ein Sex-Verbot in sich, solange keine Liebe dabei wäre. Welche eine idiotische Sicht das war, wusste er nicht, aber er trug sie in sich. Sie war ihm eingeimpft worden. Er hatte diese Sicht übernommen. Sie war seine.

 

Er hatte sie nicht ertragen. Er wollte Sex. Er wollte nicht weiter enthaltsam leben, Mitte 25, damals vor über 30 Jahren. Und er begann zu suchen. Nach Mädchen, die ihm sich freiwillig geben würden. Am besten völlig unverbindlich. Natürlich gab es solche nicht. Kein Mädchen ist unverbindlich. Aber er wünschte sich das. Diese Vorstellung war seine Voraussetzung für Sex, von dem er einmal kosten wollte, ohne Liebe, ohne Verbindlichkeit. Denn Liebe hatte sich nicht eingestellt. Aber Sex, wie gesagt, wollte er.

Und er bekam ihn, aber verbindlich, und gleich mit Kindern. Wie heißt es so schön: „Der liebe Gott bestraft kleine Sünden sofort, große erst nach neun Monaten.“. Das muss eine große Sünde gewesen sein.

 

Und das war die Ursache seines schlechten Gewissens. Er hatte versucht, sich seiner Verantwortung zu stellen. Das war sicher richtig. Aber es war falsch gewesen, seine eigenen moralischen Gebote zu verletzen, er war falsch gewesen, sich von seinem Sex-Bedürfnis treiben zu lassen.

 

Das war jetzt die Strafe dafür. Der Keller war die Strafe. Die Aggressivität seiner Frau war nur die Rute, Ausdruck vor allem ihres eigenen Wesens. Aber im Keller büßte er für eigenes Versagen.

 

Er hatte seine Frau schon mehrfach um Verzeihung gebeten für diesen Akt von Sex ohne Liebe. Die wollte nichts davon wissen. Sie schien ihm nicht zu vertrauen. Konnte er ihr das verdenken? Er hatte sie ja betrogen, hinters Lichte geführt, Liebe vorgegaukelt, wo keine war, sondern nur die Lust. Später hatte sich Liebe eingestellt. Doch sie war auch  immer wieder vergangen. Jede einzelne herrische Regung seiner Frau trug dazu bei, dass sie verbannt wurde. Zurück blieb der Keller.

 

Am Beginn eines neuen Lebensabschnittes steht Verzeihen. Wahrscheinlich sich selbst. 

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