Mein Freund Gutzeit

Dieser und die in den nächsten Tagen folgenden Texte sind eine Vorschrift auf einen Text, der anläßlich Gutzeits 65. Geburtstag erscheinen soll. 

Das erste Mal, wo ich Gutzeit sah, war der Gründungsparteitag der SDP. 

Ich fühlte mich nicht fremd dort, in diesem Pfarrhaus von Schwante. Das war mein Milieu. DDR-alternatives Aussehen, Kutten, lange Haare, Bärte. Gleichwohl freundliche, sympathische und offene Gesichter.  Ich kannte nur sehr Wenige in dieser, den Gemeindesaal ausfüllenden Schar. Dieser Gemeindesaal war mit uns etwas über 40 zählenden Gruppe auch wirklich voll. 

 

Und plötzlich, die Versammlung hatte schon begonnen, kam jemand herein, der mir sofort auffiel. Er guckte grimmig, im Gegensatz zu den vielen anderen. Und er musterte die Gruppe. Er benahm sich völlig anders, als all die anderen, die hier saßen. Er wirkte wie jemand, der etwas kontrollierte, der etwas vorhatte mit den hier Anwesenden. Aber offenbar war er zufrieden. Denn er nickte kurz. Dann setzte er sich und schwieg. 

Der Mann war interessant. Sein Gesicht hat etwas von einem dieser griechischen Philosophen an sich. Tiefe Furchen, herabgezogene Mundwinkel. Ich habe mich immer gefragt, warum Philosophen so aussehen müssen. Aber sie taten es. Merkwürdig diese Ähnlichkeit. 

 

Ich kann mich lange nicht mehr an alle Details dieser Gründungsversammlung erinnern. Und die Erinnerung schlägt einem ja ein Schnippchen. Sie verändert sich mit jedem Male, die man sie bemüht. Doch die Erinnerung an das erste Mal, wo ich Gutzeit sah, verändert sich nicht. Hat sich nicht verändert, wird sich nicht verändern. 

 

Es war der Moment, wo für mich diese Freundschaft entstand, von der ich mir vorgenommen habe, hier zu erzählen. 

 

Es würde den mir zur Verfügung stehenden Raum, alles zu berichten, sprengen. Deshalb kann ich eigentlich nur kleinere Stückchen dieser Erinnerung an einander fügen, in der Hoffnung, damit ein Bild anzudeuten, das der Leser bitte gefälligst mit seiner eigenen Phantasie ausfüllen möge. Doch seine Phantasie wird ja nicht viel anders sein, als meine eigene es ist. Sie arbeitet von alleine. Und da wo wir zu wissen meinen, arbeitet unsere Vorstellung von ganz alleine, nicht selten gänzlich unbemerkt von unserem Bewusstsein. Bilder reihen sich an Bilder. Sie vervollständigen sich von alleine. Aber sie speisen sich aus der eigenen Erlebniswelt. Man kann das nicht verhindern. Und man soll es auch gar nicht tun. Man kann nur erzählen. Und genau das will ich hier tun. 

 

Im Laufe dieses Tages, des 7.Oktober 89 gab es für mich einige völlig unerwartete Wendungen, die mir meine ganze Entscheidungsfähigkeit abverlangten, aber zum Schluß doch leicht überfordert hatten. Denn ich war zum ersten Sprecher gewählt worden, das heißt der erste Vorsitzende dieser neuen Partei geworden, an deren Zustandekommen ich nur marginal beteiligt war, und die ich zwar von ganzem Herzen bejahte, aber bisher keine Gelegenheit hatte, mich intellektuell darauf vorzubereiten. 

Gutzeit hatte in Schwante sichtbar für mich nicht viel geredet, vielleicht mehr agiert. Denn er setzte durch, dass vom Statut nur der erste Teil beschlossen wurde, dass es einen Aufnahmeantrag in die sozialistische Internationale gab, und dass die Versammlung vor Schluß der Tagesordnung abgebrochen werden musste, eben um dieses Statuts wegen. Ich verstand nicht richtig, warum ihm das so wichtig war. Zwar hielt ich dieses Basisgehabe in dessen zweiten Teil auch für naiv, doch bekämpft hätte ich es nicht. Genauso wenig, wie ich die Bemerkungen zur Deutschen Einheit für sehr zukunftsweisen hielt, die im Vortrag von Meckel zu hören waren. Sie trafen m.E. den Kern dessen, was uns bevorstand nicht. Aber hier wurde ich mit einem anderen Denken konfrontiert, als es mir bisher eigen war. Einer zusätzlichen Dimension, die des rationalem, politischen Handelns. In keiner der Gruppen, mit denen ich bisher zu tun hatte, war eine dermaßene Entschlossenheit zu spüren, wie in diesem von Gutzeit und Meckel betriebenem sozialdemokratischen Projekt. 

 

*

 

Auf einer der folgenden Vorstandssitzungen wurde der Geschäftsführende Ausschuss bestimmt. Ich setzte durch, dass Gutzeit da hineingewählt wurde. In den wenigen, von Gutzeit ausgehenden  Gesprächen, die wir seit der Gründung der SDP gehabt hatten, war die Perspektive zu spüren, die Gutzeit in Bezug auf die SDP eigen war. An der Stelle wo ich ein Gefühl hatte, hatte er klare Vorstellungen, Gedanken und Worte. Aber er kam nie autoritär oder gar besserwisserisch daher. Das wäre mir empfindlich aufgefallen. Und das tat es nicht. Er hatte etwas sehr überzeugendes an sich. Er argumentierte grundsätzlich, immer. Da wo andere mit dem Kopf durch die Wand wollten, redete er. Erst später stellte ich fest, dass auch Gutzeit einen in Grund und Boden reden konnte, wenn es ihm wichtig war. Damals kann ich mich an derartige Erfahrungen nicht erinnern. 

 

Die Gespräche mit Gutzeit erwiesen sich für mich von Anfang an als ausgesprochen hilfreich, ja als lehrreich. Er wurde mir zum entscheidenden Kompass in diesen von Ereignissen überfüllten Tagen, an denen manchmal so viel passierte, wie sonst in Wochen, ja Monaten nicht. Und ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Das war der Beginn einer Partnerschaft, die über Jahre halten sollte, und deren Ende auch heute noch nicht gekommen ist. 

 

Was ich für Gutzeit wurde, das weiß ich nicht richtig. Manchmal spüre ich es, manches kann ich mir erschließen. Doch was Gutzeit für mich wurde, das kann ich beschreiben. Er war jemand, der über Tage, ja Wochen hinaussah. Jemand, der mehr zu wissen schien, als all die anderen Menschen, die politisch daherkamen. Jemand, der über eine Erwartungshaltung und eine Perspektive verfügte, die nicht einer Zauberei entstammte, sondern seiner spezifischen Fähigkeit Sachverhalte durchzureflektieren, und zwar bis er ihnen auf den Grund gegangen war. Diese Fähigkeit könnte jeder haben, wenn er denn wollte. Gutzeit wollte offenbar. Er hatte tatsächlich etwas von einem Philosophen an sich, der sich der Möglichkeiten seines Verstandes bedienen konnte, besser als viele anderen, und der deshalb erklären konnte, und auch vorhersagen konnte, wo andere aufgegeben hatten, und lieber in Erwartungsgefühle oder Träume ausweichen, die lieber vom Glauben als vom Wissen sprechen, ohne zu wissen auf welche Vorstellungen sie sich da einlassen. Bei Gutzeit war immer alles genau. Nie habe ich ihn so etwas sagen hören, wie „das glaube ich nicht“. Bei ihm war und ist immer alles konkret. Und gerade deshalb nachvollziehbar, überprüfbar. Und in dem er sich selbst ernst nahm, konnte er auch jeden anderen ernst nehmen. Wer sich auf ein Gespräch mit ihm einlassen kann, spürt diese Ernsthaftigkeit bis heute. Aber es ist eine unbestechliche Ernsthaftigkeit. Eine Ernsthaftigkeit, die einem bewusst machen kann, wo man sich selbst nur auf die Gefühle oder gar Illusionen verlässt. Und deshalb empfanden ihn damals schon nicht wenige Menschen als verletzend. Denn es ist eine Kränkung, wenn einem in der Begegnung plötzlich die eigenen Grenzen, Dummheiten und Illusionen, denen man sich hingibt, klar werden.

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