Gutzeit hat mir heute vormittag einen Text von mir vorbeigebracht, den ich seinerzeit für mich persönlich, zur Klärung meiner Gefühle und Gedanken am 2. Tag nach dem Mauerfall niedergeschrieben habe. Diesen Text hatte Gutzeit, der sich bemüht an sämtliche Texte, die die Geschichte der SDP dokumentiere, vor Jahren von mir selbst bekommen, Als ich ihn heute wiedersah, kam er mir bekannt vor. Er ist fehlerbehaftet, was Orthographie, vor allem den Ausdruck betrifft. Aber seine Intentionen und das in ihm festgaltene Voranschreiten des Begreifens ist deutlich erkennbar.
Es ist ein Text, der mein damals vorhandenes Reflexionsniveau dokumentiert und widerspiegelt. Es ist auch ein Text, der mein Herangehen an eigene Gefühlslagen und Stimmungen, die unkonkret, unbegriffen, also nicht in Worte gefasste Gefühle versucht zu verstehen und zu verbalisieren, also zu rationalisieren, dokumentiert. Diese Art des Herangehens an neue Problemlagen habe ich mir angewöhnt in meiner Friedenskreisarbeit 1988 und 1989, wo ich häufig in der Situtaion war, Gefühle, die mich und die Teilnehmer der Friedensgebete bewegten, auszudrücken und auf den Punkt zu bringen. Dafür begann ich bei meinen eigenen Eindrücken und bewegte mich dann langsam tastend und fragend voran. Dabei kamen mir manchmal Formulierungen in den Kopf, die mir selbst schlagend vorkamen, die also erhellend waren, und die mir als Begriff klarmachten, was gerade passiert. Bessere Beschreibungen hätte ich kaum finden können, als durch diese Art der Introspektion.
So ist es auch hier.
Ich erinnerte mich an die Ereignisse dieses Tages, der mich überwältigt hat. Wir waren als Familie, also meine Frau Beate mit unseren drei kleinen Kindern, Johanna, Antonia und Gregor in unserem blauen Trabi Kombi nach Westberlin gefahren. Es war ein Samstag, Freitag war noch Schule, und ich hatte keine Zeit. Die Freundlichkeit, mit der gerade unsere Kinder von wildfremden Leuten in Westberlin mit kleinen Geschenken bedacht wurden, hatte in mir gemischte Gefühle ausgelöst. Einerseits war die Freundlichkeit spürbar, und die Freude über dieses Ereignis war allgemein. Andererseits hatte das etwas von Almosen an sich. Wir kamen ja nicht als Bettler. Doch diese Bedenken stellte ich damals zurück. Und das war auch richtig so.
Im Weiteren wird der Leser vielleicht auch staunen, über die Rolle, die ich der SED damals noch zudachte, deren Zusammenbruch ja viel schneller voranschritt als ich mir vorstellen konnte.
Und natürlich wird der Leser staunen, selbst ich war erstaunt, als ich die von mir niedergeschriebenen Zeilen von der zu verhindernden Wiedervereinigung entdeckte. Daran kann ich mich übrigens, im Gegensatz zu vielen anderen Textstellen nicht mehr erinnern. Zur Deutschen Einheit hatte ich offenbar ein weit schwierigeres Verhältnis, als ich mir selber später eingestehen wollte. Immerhin bin ich schon in der ersten Hälfte von 1989 von der Unvermeidbarkeit der Wiedervereinigung ausgegangen. Doch im SDP-Vorstand wurde die Deutsche Einheit nicht offensiv diskutiert, eher zurückhaltend, ja fast als unberührbar. Und vielleicht habe ich Rücksicht auf diese Haltung genommen. Wahrscheinlicher ist allerdings etwas anderes. Denn die Deutsche Einheit bedeutete, Westdeutschland, das heisst die von Kohl regierte Bundesrepublik als Player für die friedliche Revolution in der DDR zu akzeptieren. Das aber wollte ich nicht. Ich wollte, dass wir erst mal die SED komplett entmachten, und dass wir die SED-Diktatur stürzen. Erst danach kam für mich eine mögliche Wiedervereinigung in Frage. Das mag im Nachhinein kurzsichtig erscheinen. Aber es war richtig, in dieser Reihenfolge zu denken. Über diese Fragen lasse ich mich im Übrigen in meinem Text vom 11.11.89 gar nicht aus.
Damals hat Meckel vor allem eine mögliche Deutsche Einheit erst im Zusammenhang mit der Europäischen Einheit für möglich gehalten. Gutzeit hingegen ist von der Ermöglichung der Deutschen Einheit als Folge der Gorbatschowschen Neuen Aussenpolitik ausgegangen. Aber in typisch Gutzeitscher Manier, hat er darüber nur in Andeutungen geredet.
Der Text hat in der SDP nie eine Rolle gespielt. Aber für mich hat er eine grosse Rolle gespielt. Denn ich hatte mit ihm meine Gedanken geklärt, und ich hatte einen Kompass, mit dem ich über die nächsten Wochen kam.
Er ist authentisch, und er ist als Kompass ziemlich klar. Ich denke, dass er Bestand hat vor den Augen der Historiker. Schämen muss ich mich als Autor nicht dafür. Er war nie für die Öffentlichkeit bestimmt, schon weil mir das damals gar nicht möglich war. Jetzt stelle ich ihn der Öffentlichkeit als Zeitdokument vor. Vielleicht interessiert er ja den einen oder anderen Zeitgenossen.
Der Schluss mit Pompeji zeigt im Übrigen auch, dass ich damals davon ausgegangen bin, dass wir Ostdeutschland komplett neu aufbauen werden müssen. Und das ist auch im Nachhinein, nach der SED-Diktatur und der sowjetischen Besatzung, nach den Ereigenissen der Deindiustrialsieirung, der Binnenmigration, den vielen unaufgegriffenen politischen Aufgaben Ostdeutschlands bis hin zu seinem Rechtsextremismus wirklich nicht untertrieben gewesen.