Über den Tag hinausdenken
Moralisch hatte Putin seinen Ukraine-Krieg bereits verloren, bevor er ihn begonnen hat.
Es kann sein, dass sein Ukraine-Feldzug der Anfang von seinem Ende ist. Vorhersagen lässt sich das allerdings nicht.
Fakt ist, dass Putin in seinem Russland schon vorher mit dem Rücken an der Wand stand. Außer Säbelrasseln oder dem Mobilisieren russisch-nationalistischer Gefühle hat er seinen Bürgern ja nichts mehr anzubieten. Das ist einer der Gründe seiner militärischen Abenteuer. Aber jetzt ist es gut möglich, dass er in der Ukraine auch ein militärisches Fiasko erlebt. Doch ausgemacht ist das nicht. Trotz westlicher Sanktionen, trotz der überwältigenden Welle westlicher Solidarität, und vor allem trotz der tapferen und mutigen Gegenwehr der Ukrainer selbst. Es kann dennoch sein, dass Putin seinen Krieg gewinnt, und die Ukraine unterjocht. Aber er wird keine Freude daran finden. Er wird mehr Probleme damit haben, als vorher, und er bekommt mehrere unlösbare Probleme mit hinzu. Zunehmende wirtschaftliche Probleme werden zu sozialen Spannungen führen, die militärische Hochrüstung wird die nationalen Reserven verschlingen. Und eine stagnierende, ja schwindende Wirtschaftskraft wird von der Bevölkerung mit sinkendem Lebensstandard bezahlt werden.
Es ist klar, dass Putin sein Volk mit seinem Ukraine-Feldzug mit in seinen eigenen Untergang, sei es moralisch, sei es militärisch mit hineinzieht. Das ist jetzt schon so. Und das wird auch so gesehen von den eigenen Landsleuten. Sonst würden diese nicht so zahlreich gegen diesen Krieg demonstrieren.
Putin darf es nicht schaffen mit seinem Ukraine-Feldzug, der ja auch uns allen, den Staaten der EU, den Staaten, die sich auf dem demokratischen Weg befinden, dem Weg der Menschenrechte, des Rechts und der Gewaltenteilung befinden, gilt, die Grundfesten unserer europäischen Friedensordnung zu zerstören.
Die Grundprinzipien dieser Ordnung, wie sie in Helsinki vertraglich vereinbart wurden, wie sie zum Ende des Kalten Krieges völkerrechtlich verbindlich festgeschrieben wurden, und wie sie auch bilateral zwischen der Ukraine und Russland vereinbart wurden, sind und bleiben richtig. Dass Putin sie aufkündigt, macht sie nicht falsch, und zerstört sie nicht. Putin allein wollte sich nicht mehr daranhalten. Der Westen konnte ihn nicht daran hindern, obwohl er sich dafür bis zum Schluss Mühe gegeben hat. An ihm liegt der Bruch des Völkerrechts, wie ihn Putin nicht erst jetzt, sondern seit vielen Jahren mehrere Male unter Beweis gestellt hat, nicht. Im Gegenteil; diese Grundprinzipien sind die einzige Möglichkeit für uns, ein Europa des Friedens zu Ende zu bauen. Und im Westen, in der EU, sogar in der NATO funktioniert das ja auch, trotz Türkei, trotz Polen und Ungarn.
Die europäische Zivilisation kann nur leben, wenn sie der Freiheit verpflichtet bleibt. Die europäische Freiheit wird in der Ukraine militärisch angegriffen. Wir Europäer sind solidarisch an der Seite der Ukraine, weil die Freiheit dort nicht untergehen darf. Aber wir dürfen auch nicht aufhören, an der europäischen Friedensordnung weiter zu bauen, damit sie auch in Osteuropa ihre segensreiche Wirkung entfalten kann.
Doch einen Automatismus, dass, wenn Putin untergeht, automatisch eine neue Friedensordnung entsteht, gibt es nicht. Wenn es auch nicht ausgeschlossen scheint.
Ich denke mir, dass wir uns, die EU, auch Amerika und generell die westlichen Staaten sich überlegen müssen, ob sich Russland nicht in eine gesamteuropäische Friedensordnung integrieren lässt. Das ist bisher, nicht zuletzt an Russland selbst, gescheitert, aber nicht nur. Es ist auch an den Amerikanern, und vielleicht sogar allen drei westlichen Siegermächten des 2. Weltkrieges gescheitert, und zwar 1990, als Gorbatschow den Kalten Krieg beendete.
Drei Mal hat Gorbatschow dem US-amerikanischen Präsidenten Bush Senior seinerzeit den NATO-Beitritt der Sowjetunion angeboten. Gorbatschow selbst wollte die Auflösung der Blöcke, sowohl des Warschauer Paktes wie auch der NATO. Letzteres hat Bush immer abgelehnt, weil er Deutschland in der NATO halten wollte, und weil er einer neuen Sicherheitsstruktur, die Gorbatschow das Europäische Haus nannte, und die damals nur als Vision existierte, nicht vertraut hat. Das Angebot von Gorbatschow, der NATO beizutreten war eine logische Reaktion auf diese Haltung der Amerikaner. Bush hat dieses Angebot, von dem Rice und Zoellick eindrucksvoll in "Sternstunden der Diplomatie" berichten, nie ausgelotet.
Die Folge davon war, dass Russland nicht in gemeinsamen Sicherheitsstrukturen verankert wurde. Das Wiederaufnehmen des russischen Expansionsdrangs und seiner Großmachtsphantasien, muss nun eben auch als eine Folge der Nicht-Integration Russlands in eine gemeinsame Sicherheitsstruktur gesehen werden.
Es wird Zeit für den Westen, wenn er denn die kleinen osteuropäischen Länder vor dem Expansionsdrang Russlands schützen will, und eine dauerhafte europäische Friedensordnung schaffen will, auszuloten, wie in diese Russland integriert werden kann. Eine mögliche Niederlage Russlands in der Ukraine, die wie häufig in der russischen Geschichte in einen wirtschaftlichen und sozialen Niedergang des großen russischen Volkes münden mag, was wir ihm nicht wünschen wollen, kann vielleicht ein Umdenken befördern. Aber auch so muss uns daran gelegen sein, die alte Vision von Gorbatschow von einem gemeinsamen europäischen Haus, ganz gleich in welcher Form, ganz gleich unter welchem Namen, zu verwirklichen. Unsere jetzige Friedensordnung bleibt unvollständig, solange es nicht gelingt, Russland als einen gleichberechtigten und ebenbürtigen Partner zu integrieren und mit ihm gemeinsam die europäische Friedensordnung zu vervollständigen.
Ja, wenn es einen Weg nach vorn mit Russland gibt, dann ist an die Überlegungen von Michail Gorbatschow anzuknüpfen. Sein Entwurf eines gemeinsamen europäischen Hauses war der richtige Schritt, der nur teilweise konstruktiv beantwortet wurde. Und ja: die Grundakte von Helsinki ist und bleibt der konstruktive Beginn einer gesamteuropäischen Friedensordnung.
Es wird darum gehen, in der Post-Putin Zeit neu daran anzuknüpfen und jede Form des Triumpfs zurückzuweisen. Denn es bleibt richtig: Europa (und die Welt) braucht verlässliche Verbindlichkeiten, die aus dem Wissen entstehen, dass Sicherheit nur gemeinsam gedacht werden kann. Insofern muss Russland wieder, wie unter Gorbatschow, zu einem Sicherheitspartner werden – je früher, desto besser. In der Charta von Paris sind diese Grundprinzipien enthalten. Es geht jetzt darum sie in gemeinsame Sicherheitsstrukturen münden zu lassen.
Als der erste Weltkrieg tobte, haben sich einige Politiker auf den Weg gemacht, und überlegt, welche Strukturen es braucht, um so einen Krieg in der Zukunft zu verhindern. Als der zweite Weltkrieg tobte, sind diese Überlegungen vertieft und nach 1945 realisiert worden. Vor einer ähnlichen Aufgabe stehen wir heute in Bezug auf das östliche Europa und vor allem von Russland.
Es braucht dafür den guten Willen von beiden Seiten. Den von Putin sehe ich nicht. Und damit braucht man wohl auch nicht zu rechnen. Aber das sollte uns nicht daran hindern, an einer Friedensarchitektur zu arbeiten, die auch in Osteuropa den Frieden schützt. Und wenn andere das für illusorisch halten, und sich daran nicht beteiligen wollen, ist das noch lange kein Grund für uns, nicht unsererseits für einen dauerhaften Frieden, um und mit Russland zu arbeiten.
Inspiriert und entstanden aus einer Korrespondenz mit Gert Weißkirchen, MdB a.D..