Bei der Lektüre von Rosenbergs „Die beschädigte Kindheit – Das Krippensystem der DDR und seine Folgen“, dessen Besprechung ich hier veröffentliche, ist mir die Geschichte einer bemerkenswerten Ärztin und Hygienikerin besonders aufgefallen, deren Schicksal stellvertretend für eine ganze soziale Gruppe der DDR steht:
Eva Schmidt - Kolmer, 1913 in Wien geboren, war eine Medizinerin, gleichzeitig Kommunistin und jüdischer Herkunft. Sie ist in Österreich aufgewachsen, hat sich dort politisch links
orientiert (in der Sozialdemokratie und im kommunistischen Jugendverband), studierte Medizin, und musste schließlich vor den Nazis fliehen. Nach der Rückkehr aus ihrer Emigration ging sie 1946
nach Ostberlin, wo ihre Approbation anerkannt wurde, die sie in Österreich nicht mehr erhalten hatte.
In der DDR war sie bis zum Schluss leitende Hygienikerin und über Jahrzehnte eine führende Expertin in Sachen Krippensystem und Wochenkrippe. Sie starb 91 in Berlin.
In ihren wissenschaftlichen Studien stellte sie fest, dass das Krippensystem der DDR die hier untergebrachten Kinder traumatisierte, weil der Verlust der Mutter durch nichts zu kompensieren war.
Eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit und eklatante Entwicklungsrückstände bei den Kindern waren die Folge. Diese Auseinandersetzungen um das Für und Wider des Krippensystems prägten die 50er
Jahre.
Die SED sah das nicht gerne, aber das zuständige Gesundheitsministerium bewilligte Eva Schmidt-Kolmers einschlägige Studien immer wieder. Dennoch hielt die SED an ihrer Linie eines forcierten
Ausbaus der Krippensystems trotz der bekannten Studienergebnisse, die die Nachteile der Krippen unter Beweis stellten, aus ideologischen, pädagogischen und politischen Gründen fest. Sie standen
im eklatanten Gegensatz zu diesen Studienergebnissen. Schmidt-Kolmer hat dagegen nicht protestiert. Im Gegenteil, sie hat sich und ihre Studienergebnisse sogar selbst verleugnet. Als im Neuen
Deutschland, dem Zentralorgan der SED eine Diskussion um die Qualität der Krippen geführt wurde, war offenbar auch Eva Schmidt-Kolmer gehalten, als offenkundige Expertin und wissenschaftliche
Autorität daran teilzunehmen. Und jetzt verteidigte sie das Krippensystem gegen den Vorwurf, dass die Kinder dort Schaden nähmen, und eine Herausreißen aus der Familie schädlich sei. Und sie
verteidigte sie mit den gleichen Propaganda-Argumenten, mit der die SED immer die Forcierung des Krippensystems begründet hat.
Danach und davor aber hat sie die Studien betrieben, die klar begründeten, dass und warum die Krippen schädlich für die kleinen Kinder waren.
Als Hilde Benjamin dann Anfang der 60er Jahre als Justizministerin beim Gesundheitsminister gegen diese Studien von Schmidt-Kolmer intervenierte, wurden sie nicht mehr betrieben.
Schmidt-Kolmer hat das hingenommen und nie protestiert. Später hat sie dann sogar die Einbeziehung der Krippen in das Bildungsziel der "entwickelten sozialistischen Persönlichkeit" konzeptionell
begleitet. Sie war bis ans Ende der DDR die Expertin auf dem Gebiet der Krippenerziehung in der DDR.
Also, was ist da passiert:
Ich denke, dass für Frau Schmidt-Kolmer Parteiräson vor ihrer eigenen Wissenschaft rangierte. Das heißt, die Unterordnung unter den Macht- und Wahrheitsanspruch der SED war ihr wichtiger als das
Festhalten an ihren Studienergebnissen. Gerade in der Zeit, als sie die Studien betrieb, muss ihr klar gewesen sein, dass die Linie der Partei ganze Generationen von Kindern schädigt. Trotzdem
hat sie die Linie der Partei verteidigt. Warum macht man das? Ich denke, weil ihr ihr metaphysischer Glaube an die historische Mission der Arbeiterklasse unter Führung der Partei der
Arbeiterklasse wichtiger war und grundlegender als die Ergebnisse ihrer Studie. Ich denke, dass sie Kritik an ihrer eigenen Partei nicht artikulieren konnte, weil sie davon überzeugt war, dass es
wichtiger ist, den Macht- und Wahrheitsanspruch der SED zu unterstützen, als diesen mit wissenschaftlichen Studien in Zweifel zu ziehen. Die Richtigkeit des Marxismus-Leninismus, sein
historischer Materialismus, der Glauben an den Sozialismus, an das Weltprojekt Sozialismus/Kommunismus, als das war in ihren Augen ein höheres Gut, als ihre wissenschaftlichen Studien, die sie
mit ihrem eigenen Verhalten entwertet hat. Sie glaubte an ihren Kommunismus, obwohl dieser Glaube ihre Arbeit, ihre Integrität und ihre wissenschaftliche Autorität entwertete.
Offenbar war sie zu einer Reflektion dieses Widerspruchs, den sie persönlich auszutragen hatte, nicht in der Lage. Sie konnte ihren eigenen Glauben an die SED nicht hinterfragen. Denn das hätte
bedeutet, ihr ganzes Leben in Zweifel zu ziehen. Das kam für sie nicht in Frage. Sie verbot sich offenbar das Nachdenken über die Gründe dieses Widerspruchs zwischen ihrer wissenschaftlichen
Arbeit, die sie hochklassig durchführte, und dem Machtanspruch ihrer Partei.
Und wenn man sich das mal klar macht, was das eigentlich heißt, einen Macht- und Wahrheitsanspruch zu akzeptieren, dann wird einem klar, dass die SED die Macht hatte, bei ihren Anhängern zu
definieren was richtig und was falsch ist. Das heißt die Propaganda musste geglaubt werden, und sie wurde geglaubt. Wenn die Partei etwas sagte, dann galt das, unabhängig davon, dass man
persönlich wusste, dass die Partei die Unwahrheit sagte.
Dieser Glaube gab der Partei die Macht, das was sie für wahr hielt, in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Machtanspruch hieß also, bestimmte Ansichten als geltende öffentliche Wahrheiten zu
definieren und die Leute zu zwingen, sich ihnen unterzuordnen. Das taten auch gebildete Menschen, Intellektuelle. Menschen mit Sachverstand, mit Geist, mit Bewusstsein. Es war ihr Glaube an den
Sozialismus, der sie zu diesem Verhalten führte.
Wer einmal diesen Glauben angenommen hatte, war in einem geschlossenen Weltbild gefangen, aus dem er offenbar aus eigener Kraft nicht mehr herauskam. Der gab sein Gewissen, sein
wissenschaftliches Ethos, seine Fähigkeit zu eigener Urteilskraft an der Pforte zum Eintritt in die Partei ab.
Umgekehrt hätte das Nachdenken über die Hintergründe dieses offenkundigen Widerspruchs zwischem eigenem Wissen und Erfahrung und dem Macht- und Wahrheitsanspruch der SED zu einer Auflösung des
Glaubens an den Macht- und Wahrheitsanspruch geführt, und damit den Glauben an den Kommunismus, und den historischen Materialismus aufgelöst. Dann hätte der Einzelne entdecken können, welchen
Strukturen er sein Gewissen und sein Ethos opferte.
Ja, der Begriff des Opfers der eigenen Urteilskraft scheint mir hier angemessen zu sein. Und mit dem Opfer der eigenen Urteilskraft opferte man auch seine Individualität, seine Persönlichkeit.
Man ging im Kollektiv der Glaubenden auf. Damit erlosch auch die Fähigkeit zur Verantwortung für das, was man als richtig erkannt hatte.
Denn wer im Kleinen entdeckt, das heißt bei sich selbst, wie sehr der Macht- und Wahrheitsanspruch die eigene Urteilskraft beschädigt, und in Frage stellt, und wer also letztlich seine eigene
Urteilskraft ausschaltet, der weiß dann auch, dass das ein Allgemeinphänomen der ganzen Gesellschaft ist. Und der kann sich ausrechnen, zu welchen Folgen das führt, nämlich zu einer Schädigung
der Gesellschaft, und damit auch zur Niederlage - der eigenen Partei, ja zu einer Niederlage letztlich sogar des Glaubens an den Sozialismus. Das heißt, dieser Widerspruch ist die Widerlegung des
Glaubens an die Partei und an den historischen Materialismus.
Dieses Problem hatte nicht nur die Eva Schmidt-Kolmer, das hatten alle Intellektuellen, die an der DDR und der SED wegen ihres Sozialismus festhielten.
Man kann das als ein metaphysisches, als ein ideologisches, als ein religiöses, aber letztlich vor allem als ein geistiges Problem erkennen, mit dem das Problem des Niedergangs der DDR
unmittelbar verbunden war.
Das ist die Antwort auf die Frage, die ich mir immer wieder gestellt habe, warum sich in der SED keine politischen Kraft fand, die sich dem greisen Politbüro unter Honecker in den Weg gestellt
hat.
Ihnen fehlte die geistige Kraft, das Problem des Niedergangs der DDR zu durchdringen, weil sie nicht bereit waren, die Prämissen ihres Glaubens an ihren Sozialismus in Frage zu stellen. Sie waren
in einer Falle ihres Denkens, ihres Glaubens gefangen. Weil sie an ihren Sozialismus glaubten, konnten sie sich nicht vorstellen, dass er auf einem Irrtum beruhte, nämlich dem Macht- und
Wahrheitsanspruch. Weil sie, wenn sie darüber nachdachten, also über ihren Lebenswiderspruch nachdachten, an die Grenzen des Macht- und Wahrheitsanspruch stießen, den in Frage zu stellen
sie sich nicht trauten, konnten sie die Falle, in der sie sich befanden nicht erkennen, nicht sehen, nicht auflösen.
Und das perfide an dem Macht- und Wahrheitsanspruch ist zudem noch gewesen, dass er von jedem, der Macht hatte, angewandt werden konnte. Jeder Minister, nicht nur Honecker, konnte in seinem
Bereich anordnen, was als Wahrheit zu gelten hatte. Jeder Funktionär. Jeder Leiter. Und dieses System, wo jeder seinen Machtanspruch in seinem Herrschaftsanspruch durchsetzen konnte,
funktionierte nur, wenn er den Machtanspruch des jeweils hierarchie-Höheren nicht in Frage stellte.
Das erklärt übrigens auch, weshalb Honecker den Schürer hat abtreten lassen, als der ihn auf die ruinöse Finanzpolitik des Staates hinwies. Honecker verfügte über den Machtanspruch persönlich,
als Generalsekretär. Und er wendete ihn immer da an, wo er sonst nicht weiter wusste. Dass er seinen Laden damit immer weiter in den Abgrund ritt, interessierte ihn weniger. Mit Logik kam Schürer
da nicht ran. Der Macht- und Wahrheitsanspruch gab jedem, der über ihn verfügte die Macht, zu definieren, was richtig und falsch ist. Ein Diskurs aber ist nur da möglich, wo es keinen
Macht- und Wahrheitsanspruch gibt. Folglich kann man sich nur korrigieren, wenn man seinen Macht- und Wahrheitsanspruch aufgibt.
Und wer mit einem Macht- und Wahrheitsanspruch regiert, der muss zwangsläufig zur Gewalt greifen, um ihn durchzusetzen. Nur da, wo der Machthaber über Gewalt verfügt, kann er seinen Macht- und
Wahrheitsanspruch durchsetzen. Und weil das letztlich Terror bedeutet, widersprachen die betroffenen Opfer nicht, denn sie hatten Angst vor dieser Gewalt.
Aus dem Wahrheitsanspruch folgt der Machtanspruch, und aus dem Machtanspruch folgt die Fähigkeit zu definieren, was Wahrheit ist. Und aus diesem Wahrheitsanspruch folgt wieder der Machtanspruch.
Eine unendliche Reihenfolge an Macht- und Wahrheitsansprüchen, ein perfides totalitäres Spiel.
Traurig und dramatisch, was daraus folgte. Ganze Generationen an Intellektuellen im Kommunismus haben da geistig ins Gras gebissen, und nicht wenige auch physisch.
Letztlich hat sich historisch und philosophisch der dialektische Materialismus selbst widerlegt. Aber eine ungeheure Zahl an Opfern hat er erzeugt, ganz zu schweigen von den
Kollateralschäden.
Dass ein solches Denksystem nicht überleben kann, liegt auf der Hand. Doch wer hat das gesehen in der DDR.
Und zum Schluss muss man feststellen, ist das Problem des Macht- und Wahrheitsanspruches auch mit dem Ende der DDR nicht untergegangen. Er ist Alltag in der unserer politischen, in der medialen Welt, in Wissenschaft und Kultur. Er ist bei cancel culture genauso zu beobachten, wie bei der AfD oder der militanten Öko-Bewegung. Nur dass in unserer offenen Gesellschaft Gewalt nur sehr begrenzt oder subtil eingesetzt werden kann.
Im in den Gründungspapieren der SDP (Sozialdemokratische Partei in der DDR) hatte Martin Gutzeit den Satz untergebracht: „In tiefer Ablehnung jeglichen totalitären Denkens und Handelns, gründen wir eine sozialdemokratische Partei.“. Der ist aktueller, denn je.