Mut und Vernunft in der Schlussphase der sowjetischen Politik
Ich habe gelesen:
Wjatscheslaw Daschitschew:
Moskaus Griff nach der Weltmacht, Die bitteren Früchte hegemonialer Politik
Verlag E.S. Mittler & Sohn GmbH
Hamburg, Berlin, Bonn
2002
Leinen, gebunden, 543 Seiten
Wjatscheslaw Daschitschew (1926 – 2016) war ein promovierter Historiker, und leitete von 1973 bis 1990 die Abteilung für außenpolitische Probleme am Institut für Internationale wirtschaftliche und politische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften. Dieses Institut und insbesondere diese Abteilung hatten auch eine Beratungsfunktion für die Spitzen der sowjetischen Politik in außenpolitischen Fragen. Daschitschew war ein wichtiger Berater für Michail Gorbatschow. Er wirkte wie der Stichwortgeber für die Öffnungspolitik Gorbatschows gegenüber dem Westen, dem Ende des Wettrüstens und des Kalten Krieges, dem Rückzug der SU aus den ehemaligen Satellitenstaaten der SU und dem sowjetischen Einverständnis zur Deutschen Einheit 1990, inclusive seiner weiteren Verankerung in der NATO. Er nahm viele der damaligen Schritte geistig vorweg, die dann später von Gorbatschow realisiert wurden. So wurde er in den späten 80er Jahren zu mehr als nur einem Insidertip, die interessierte Öffentlichkeit schaute auf ihn.
Dabei ist er nur selten als operativ Handelnder in die Politik eingetreten. Er hat sie durch seine Expertise, seine Analysen und seine eigene publizistische Tätigkeit beeinflusst. In seinem Buch, „Moskaus Griff nach der Weltmacht – Die bitteren Früchte hegemonialer Politik“ gibt er Einblick in dieses Wirken und zeigt dessen Folgen auf. Das umfangreiche Buch liest sich wie ein Geschichtsbuch über den 2. Weltkrieg, den Kalten Krieg, die Expansion der SU inclusive deren Rückzug, insbesondere aber auch mit der verhängnisvollen Rolle, die Stalin in derem Zusammenhang gespielt hat. Doch Daschitschews Bemerkungen gehen auch über die SU hinaus. Sie betreffen generell die Folgen von Vormachtpolitiken und schildert deren Scheitern. Vieles betrifft davon auch Deutschland unmittelbar. Es zeigt sich nicht nur an den Folgen des 2. Weltkriegs, und auch nicht nur an Hand der Rolle des kommunistischen Russlands unter Stalin und seinen Nachfolgern.
Daschitschews Buch erhellt viele Hintergründe für die sowjetische Politik Gorbatschows, mit der die SU sich von ihren Hegemonialansprüchen zurückgezogen hat, was auch die Voraussetzungen für die deutsche Einheit schuf. Der Leser lernt ungeheuer durch diese Lektüre. Dabei beeindruckt Daschitschew durch die Stringenz seiner Überlegungen, seinen Mut, aber auch den Umstand, dass die KPdSU Leuten wie ihn, bei aller Repression gegen das eigene Volk eben nicht den Boden seines Wirkens entzog. Es ist schwer zu sagen, ob Daschitschew, obwohl er zur Spitzenelite der SU zu zählen ist, und natürlich war gehörte er zur Nomenklatura, überhaupt je Kommunist gewesen ist. Immerhin war sein Vater ein hochdekorierter Revolutionsheld der Oktoberrevolution und Generalstabschef der Roten Armee. Und auch Wjatscheslaw selbst kämpfte quasi selbstverständlich in der Roten Armee im Offiziersrang gegen die Deutschen. Aber über seine innere Geisteshaltung, seine Prägungen und Einstellungen redet Daschitschew nur en passant. Man spürt sie, wenn er seine persönlichen Einstellungen und politischen Perspektiven benennt, denn diese haben immer mit dem eigenen Wertehorizont zu tun. Er war nicht frei von Fehleinschätzungen, nicht alle davon benennt er. Doch sie schmälern seinen historischen Rang nicht.
Das Buch zeigt W. Daschitschew als aufgeklärten, und historisch kenntnisreichen Denker, der gerne auch gegen den Mainstream reflektiert und gerade so zu erstaunlichen Lösungen gekommen ist. Daschitschew ist sicher ein schwieriger Charakter gewesen. Eitelkeit scheint auch ihm eigen gewesen zu sein. In Deutschland ist er in den 90er Jahren ins Gerede gekommen, weil er offenbar (laut Wikipedia und Presseberichten) nicht genügend Distanz zur NPD und ihrem politischen Spektrum gewahrt hat. Doch das lag zeitlich nach seinen wichtigen Leistungen, und es schmälert diese nicht. Ich will im Folgenden auf einige in seinem Buch angesprochenen Aspekte unserer jüngeren Geschichte eingehen. Sie faszinieren mich auch deshalb, weil ich in ihr selbst politisch Handelnder gewesen bin. Und es kann nie schaden, sein Wissen über die Rahmenbedingungen des eigenen Wirkens, der eigenen Einschätzungen und Entscheidungen zu erweitern.
Clausewitz und die Niederlage Hitlerdeutschlands
Daschitschews erste große wissenschaftliche Arbeit galt der Niederlage Hitlerdeutschlands im Zweiten Weltkrieg. Sie hat ihn zu Erkenntnissen geführt, die ihm eine Analyse der Stalin’schen Außenpolitik und deren Folgen ermöglicht haben, die damals nur wenige im Blick hatten. In „Die Strategie Nazideutschlands im 2. Weltkrieg“ (In Deutschland nicht erschienen) beschreibt er sie. Nach seinen eigenen Worten hat ihm der preußische General und Militärtheoretiker Clausewitz den Weg zu seinen eigenen Schlussfolgerungen geebnet. Es handelt sich dabei quasi um die Vorgeschichte seines eigenen politischen Wirkens. Und er kommt auf Erkenntnisse, die auch hier nur selten reflektiert werden. Nicht der Holocaust, nicht die Nazi-Diktatur sind die entscheidenden Momente für den Untergang Hitlers und das vom ihm beherrschte Deutschland, sondern seine kapitalen Fehler in der Kriegführung, schon bei der Formulierung seiner Kriegsziele selbst, die Deutschland in den totalen Untergang steuern.
Clausewitz selbst analysiert die Folgen jedweder Form von Vormachtspolitik in Europa, die in den Überlegungen Daschitschews darauf hinauslaufen, dass sich sofort Koalitionen der anderen europäischen Mächte finden, um diesen Vormachtstreben Einhalt zu geben, Grenzen zu setzen und wieder einzudämmen. Für Clausewitz scheint diese Folge unabwendbar zu sein. Sie stellt sich immer ein, ganz gleich welche Macht nach Ausdehnung strebt, ganz gleich welche anderen Koalitionen sich dagegen finden. Und diese Gegen-Koalitionen sind immer stärker, als jene Macht, die sie beherrschen will, so dass eine militärische Niederlage die logische Konsequenz ist. Das bedeutet, jede militärische Strategie, die Vormachtstrategie realisieren soll, erzeugt Gegenkräfte, die in der Konsequenz zur eigenen militärischen Niederlage führen. So wird Vormachtstreben konterkariert.
Ich weiß nicht, ob Clausewitz das so geschrieben hat. Ist auch nicht entscheidend, wiewohl auch Clausewitz mit Sicherheit lesenswert sein wird. Entscheidend ist, dass diese Überlegungen nachvollziehbar wirken, zumal man genügend historische Beispiele in der europäischen Geschichte für dieses Theorem findet. Denn das kann man auf die napoleonischen Kriege beziehen. Man kann damit den 30-jährigen Krieg analysieren, den 1. Weltkrieg sowieso. Warum also sollte nicht auch Hitler an seinem Hegemonialstreben gescheitert sein. Diese Überlegungen sind insofern beruhigend, als dass es nicht nur „Glück“ ist, dass Deutschland Hitler wieder los geworden ist, sondern eine Folge seiner eigenen Selbstüberschätzung. Das heißt Hitler hat sich selbst widerlegt. Das kann man ja schon mal mitnehmen.
Wehrmachtsgeneral Ludwig Beck
Und dann kommt Daschitschew auf einen deutschen General zu sprechen, den er in den höchsten Tönen lobt: Generaloberst Ludwig Beck. Auch dieser schien seinen Clausewitz gekannt zu haben. Denn als Beck von der berühmten Tischrede hörte, die Hitler als Reichskanzler 1936 bei dem Generalstabschef Hammerstein hielt, in welchem er von dem Überfall auf die Tschechoslowakei sprach, von dem Überfall auf Polen und zum Schluss auf die Sowjetunion, soll er sofort vom Untergang Deutschlands gesprochen haben. Er sah die militärischen Folgen dieser Pläne Hitlers, und er muss sie in drastischen Worten benannt haben. Hitler hörte davon und stellte ihn daraufhin kalt. Später engagierte sich Beck im Widerstand gegen Hitler und wurde nach dem gescheiterten Stauffenberg-Attentat hingerichtet, ermordet.
Man muss sich das klarmachen: Beck ging es noch nicht um den Zweifrontenkrieg, sondern er sah die Bildung einer militärisch überlegenen Koalition, der späteren Alliierten bereits voraus, als diese sich teils noch spinnefeind (Großbritannien und SU) waren, teils in den Krieg gar nicht eintreten wollten (USA); alleine als Reaktion auf die Annektionsvorhaben Hitlers. Der militärische Fehler Hitlers bestand also nicht einfach nur im Heraufbeschwören einer zweiten Front, der Hinnahme des Kriegseintritts der Amerikaner oder nur dem Überfall auf die Sowjetunion, oder anderer Fehlleistungen, sondern er war von grundlegender strategischer Art. Schon sein Greifen nach europäischer Vormachtstellung musste eine Gegenkoalition heraufbeschwören, die den Untergang Hitlers unumstößlich nach sich zog.
Stalin ist gemeint
Daschitschew hatte bei der Schilderung der Ursachen für die militärische Niederlage Hitlerdeutschlands nicht nur den 2. Weltkrieg im Blick, der ja in seinem Land als Großer Vaterländischer Krieg bis heute heroisiert wird. Eigentlich nimmt er den Russen sogar etwas von diesem Nimbus, weil er die Ursachen der Niederlage Hitlers eben lange nicht nur im heldenhaften Kampf der Völker der Sowjetunion sieht, sondern eben auch im strategischen Fehler Hitlers selbst, und in der überragenden Bedeutung der Alliierten-Koalition, die erst die Niederlage Hitlers wirklich möglich gemacht hat.
Vermittelt wird auch eine gewisse Parallele zu der Großmachtpolitik von Stalin, die anlässlich dieses Buches von Daschitschew in einem anderen Licht erscheint, nämlich auch als zum Scheitern verurteilt. Daschitschew meint, dass das von vielen seiner Leser auch so erkannt worden sei. Und damit ist er bei seinem eigentlichen Lebensthema, nämlich der verhängnisvollen Hegemonialpolitik Stalins und seiner Folgen, die er sich hinfort zu korrigieren bemühen wird, zum Wohle eines vitaleren Russlands, das eben nicht nur unter der totalitären Lagerpolitik Stalins leidet, sondern auch unter den Hegemonialansprüchen Stalins und der daraus folgenden Abschottung gegenüber dem Westen.
Stagnation als Folge Abschottung
In der Tat, wir können uns erinnern. Das war ja auch in der SED-Propaganda deutlich zu hören: Die SU sei das fortschrittlichste Land der Erde. Es würde politische, gesellschaftlich, letztlich aber auch technologisch und wissenschaftlich Spitzenleistungen erzeugen, und den Westen überrunden, dessen wirtschaftliche und technologische Leistungen nur selten anerkannt wurden, in der Regel aber mit seinen sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten relativiert und diskreditiert wurden. Doch damit setzte sich Stalin und sein ganzes Staatengebäude einem unerhörten Erwartungsdruck aus, den dieses auch mit noch so viel Propaganda nicht erfüllen konnte. Die Kehrseite des Hegemonialanspruchs war eben der Zwang in allen Leistungsparametern einer modernen Industriegesellschaft Spitzenreiter zu sein: Bei der Schwerindustrie, bei den Kraftwerken, in der Infrastruktur, in der Wissenschaft, in der Kultur, in den Künsten (auch im Sport). Und damit überhob sich Russland, überhob sich die SU und alle anderen im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe vereinigten ost- und mitteleuropäischen Länder.
Dabei gibt es natürlich auch eine ideologische Komponente, die Daschitschew ausführlich schildert, und die nicht in diesem Bereich verhängnisvoll Wirkungen zeigt: Denn der Kommunismus, seine marxistisch-leninistische Weltanschauung sieht den Kommunismus als führend an, eine Kraft, die in der Lage sei, alle Probleme besser zu lösen, besser für das Wohl der Menschen, auch der kleinen Leute zu sorgen, als das der Kapitalismus jemals könnte. Unter den Bedingungen der Abschottung aber war das schwer zu machen. Mit der Wirtschaftsordnung der SU konnte es erst recht nicht gelingen.
Diese Zusammenhänge zu schildern, wie Daschitschew es tut, ist nicht mehr und nicht weniger die Widerlegung der Hegemonialpolitik Stalins, und zwar nicht nur in praktischer, sondern auch in ideologischer Hinsicht. Die SU litt unter der Abschottung. Sie kann die daraus folgenden Selbstversorgungsansprüche nicht erfüllen. Propagandasprüche machen keine Mäuler satt, machen die Wirtschaft nicht flott, verbessern den Kapitalstock nicht, schließen die technologische Lücke zum Westen nicht. Kurz, nicht nur die Großmachtpolitik Stalins scheitert, ist gescheitert, sondern auch die sie begründende marxistisch-leninistische Ideologie. Kein Land, so ist Daschitschew überzeugt, kann auf den internationalen Austausch verzichten, eben nicht nur den Kapitalverkehr, sondern auch den ideellen Austausch, den Technologietransfer, die wissenschaftliche und kulturelle Kommunikation. Dies alles ist unverzichtbar, wenn ich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen in anderen Ländern Schritt halten will, wenn ich meinen Bürgern ein lebenswertes Leben ermöglichen will, wenn ich mit den Standards der modernen Industriegesellschaft mithalten will. Es war die Abschottung, die die Krise Russlands und seiner SU erzeugt hat. Wollte Russland seine Stagnation überwinden, so musste es diese selbstverursachte Abschottung überwinden. Das ist die Prämisse, auf deren Grundlage Daschitschew seine in den 70er Jahren übernommene Beratungsfunktion in der Akademie der Wissenschaften aufnimmt. Und er wird hinfort nicht müde, all seinen Auftraggebern im Zentralkomitee im Außenministerium, im RGW diese Zusammenhänge direkt oder indirekt zu erläutern.
Sie sind eigentlich eine Frage der Logik. Es ist kein Zauberwissen, das Daschitschew hier hat. Er ist auf Grund von logischen Schlussfolgerungen zu seien Ergebnissen gekommen. Dies hätte auch anderen klar sein können. Seine Besonderheit besteht darin, dass er es schafft, diese Überlegungen in der Staatsspitze der SU zu platzieren.
Kalter Krieg als Folge der Hegemonialpolitik Stalins
Daschitschew beleuchtet verschiedene Etappen der Stalin’schen Hegemonialpolitik. Am bedeutendsten sind m.E. wohl seine Überlegungen zur Rolle Russlands bei der Entstehung des Kalten Krieges. Er sagt nicht, dass Russland ihn gewollt hat. Er sagt, Stalin hat ihn provoziert. Der Kalte Krieg war eine Folge seiner Weltmachtansprüche. Das zeigt sich vor allem an der Behandlung jener Länder, die die Rote Armee im Nachsetzen gegen die geschlagene, zurückflutende Wehrmacht besetzt. Es setzt hier bedingungslos das eigene kommunistische System durch, installiert ein Regime der jeweiligen nationalen kommunistischen Partei und ordnet hinfort diese Länder den Moskauer Machtansprüchen dauerhaft unter. Manchmal dauert das länger, wie in der Tschechoslowakei, manchmal passiert das sofort, wie in Rumänien oder Bulgarien. Manchmal betreibt er einen regelrechten Genozid für das Erreichen dieses Zieles. So lässt er die Deutschen unbehelligt den Warschauer Aufstand niederschlagen, faktisch damit die gesamte bürgerliche Elite Polens buchstäblich vor die Hunde geht, er lässt sie durch die Deutschen ermorden, während er selbst seine Rote Armee anweist, den Aufständischen nicht zu Hilfe zu kommen, was leicht möglich gewesen wäre. Denn die Rote Armee stand auf der anderen Seite der Weichsel, direkt vor den Toren Warschaus und schaut untätig zu wie Hitler den Aufstand niederschlagen lässt. Dahinter steckte Machtkalkül Stalins. Denn so würden es die polnischen Kommunisten leichter haben, eine Staatsform ihrer Wahl zu errichten, eine Diktatur nach sowjetischem Vorbild.
Stalin lässt den „befreiten“ Ländern Ost- und Mitteleuropas keine Chance, ihren Weg selbst zu bestimmen. Der Kommunismus wird aufoktroyiert. Das hat eine ideologische und eine russische Komponente. Ideologisch beansprucht der Kommunismus die Weltherrschaft. Das steht schon bei Marx, der wörtlich davon spricht. Und Stalin sieht sich als sein Vollstrecker. Doch das hat auch eine russische Komponente, denn schon das zaristische Russland betrieb konsequent fast dreihundert Jahre lang eine erfolgreiche Expansionspolitik, die erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ihr Ende fand. Stalin hat die daraus folgenden russischen Gebietsverluste wieder mehr als wettgemacht. Er knüpft im Grunde an die alte russische Expansionspolitik an. Auf diesen Zusammenhang, der Verbindung von kommunistischem und russischem Weltmachtstreben hinzuweisen ist ein echtes Verdienst von Daschitschew.
In Osteuropa folgt jeweils eigene nationale kommunistische Diktatur a la Stalin der deutschen Kriegsbesatzung. Dass diese Länder den Nationalsozialismus mit dem Kommunismus gleichsetzen, ja letzteres z.T. für schlimmer halten, ist wahrlich kein Wunder. Sie haben die entsprechenden Erfahrungen gemacht. Das gilt in gewissen Sinne auch für die deutsche Besatzungszone in Mitteldeutschlands, wo die Gruppe Ulbricht in Stalins Auftrag das Ruder übernimmt. Vielleicht ist es hier sogar noch schlimmer, weil erst die russische Besatzung eine echte Fremdherrschaft war. So reichhaltig war ja der innerdeutsche Widerstand gegen Hitler auch wieder nicht. Die kommunistische These von der Befreiung, die später auch Weizsäcker übernommen hat, ist zwar richtig, aber für die meisten eher in einem abstrakten Sinne, und auch erst dann, wenn man als Deutscher selbst begriffen hat, welches Unheil Hitler über die Menschen gebracht hat.
Doch die Bedrohung Stalins erstreckte sich mit dem Ende des Krieges, der zweiten Hälfte der 40er Jahre nicht nur auf Ost- und Mitteleuropa. Auch in vielen westlichen Ländern ist die kommunistische Unterwanderungspolitik Stalins eine ernsthafte Bedrohung für die jeweils wieder neu gebildeten Demokratien. Volksherrschaften a la Stalin drohen. Die Kommunisten in Frankreich und Italien fuhren große Wahl-Erfolge ein. Die Menschen, vor allem die Einfachen, Proletarier und die sozial Schwachen haben furchtbar unter dem großen Krieg gelitten; unter der Deutschen Besatzung und ihrer Kriegführung. Die Wirtschaft lag darnieder. Eine Art Dividende über den Sieg über Hitlerdeutschland gab es nicht. Überall musste wieder aufgebaut werden. Da blieb eine schnelle Hebung des Lebensstandards auf der Strecke. Die Nachkriegszeit ist bitter. Und das kommt der kommunistischen Propaganda entgegen. Die Britten und die USA mussten also mit ansehen, wie Stalin sich nicht nur Osteuropa griff, sondern seine Finger gleich nach Westeuropa mit ausstreckte. Diese Bedrohung war eine aktuelle. Die USA reagierten. Und sie begannen mit dem Kalten Krieg. Sie begannen mit Containment gegenüber der SU, mit Embargo, mit Handelssanktionen und mit Marshall-Plan. Sie bauten Westeuropa wieder auf. Und sie begannen auch Westdeutschland wieder aufzubauen. Das war Kalkül, das war Strategie. Die kommunistischen Länder sahen da in die Röhre. Zwar wurde der Marshall-Plan auch den osteuropäischen Ländern angeboten. Aber der Preis dafür wäre die Einführung einer Marktwirtschaft gewesen, und das konnten die Kommunisten schon aus ideologischen und Moskau aus machtstrategischen Gründen schon gar nicht zulassen.
Und um das ganz klar noch einmal herauszuheben. Daschitschew sieht in Stalin nicht den Urheber des Kalten Krieges; er meint, dass Stalin ihn mit seiner Expansionspolitik provoziert, ja verursacht hat. Aber begonnen haben ihn die Westmächte, haben ihn die USA und Großbritannien. Stalin war verblendet, wahrscheinlich aus ideologischen Gründen, verblendet. Es ist ja auch nicht das einzige Mal, dass er Fehleinschätzungen aufgesessen ist. Die kapitalen Folgen seine Großmachtpolitik für das eigene Land hat er zumindest nicht gesehen, bzw. nicht ernst genommen.
Auch Stalins Nachfolger halten im Grunde daran fest. Das kann man nicht nur in Ost und Mitteleuropa erkennen (Niederschlagung des 53er Aufstands in der DDR, Einmarsch der Roten Armee und Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 und Einmarsch in die Tschechoslowakei um den Prager Frühling zu beenden 1968). Dieser Linie folgt auch die Unterstützungspolitik für Kuba nach der Castro’schen Revolution, die militärische Einflussnahme in Afrika, (Angola, Mozambique, Ägypten etc.) bis hin zum Einmarsch in Afghanistan noch unter Breschnew 1979. Im Grunde bedienen alle sowjetischen Führer bis zum letzten Vorgänger von Gorbatschow, Tschernenko, diese Hegemonialansprüche Moskaus, bleiben sie der Stalin‘schen Expansionspolitik treu. Daschitschew nennt sie alle Stalinisten. Recht hat er. Der Stalinismus, mindestens in der sowjetischen Außenpolitik hat viel länger gedauert, als nur bis zu Stalins Tod.
Militärische Hochrüstung, Wettrüsten
Daschitschew beschreibt sehr nüchtern das Paradigma des Kalten Krieges mit seinen nuklearen Waffenpotentialen. Denn die sind im Grunde nicht einsetzbar. Kein Land, weder die USA noch die SU, können es sich leisten, mit diesen Waffen tatsächlich Krieg zu führen. Ein Zweitschlag, d.h. ein gegnerischer Angriff ist nicht auszuschliessen. Wenn die USA also Moskau angegriffen hätten, dann wäre auch New York gefallen, oder umgekehrt. Die Amerikaner wussten das immer. In der SU hat es niemand kommuniziert, aber danach verhalten haben sich die jeweiligen Befehlshaber zu jeder Stunde. Für die Amerikaner war außerdem klar, dass es nicht zu einem direkten Waffengang zwischen ihnen und der SU kommen durfte, weil der Krieg dann seine Eigendynamik entfesselt hätte, und der Einsatz von Atomwaffen wahrscheinlich nicht mehr zu verhindern gewesen wäre. In einem der Hollywoodfilme über die Kubakrise „Thirteen Days“ aus dem Jahre 2000 von Roger Donaldson mit Kevin Costner, kommt dieses Horror-Szenario ausdrücklich zur Sprache. Natürlich war es ein Triumpf für Stalin mittels Spionage in den Besitz der Atom-Technologie zu kommen. Doch konnten die sowjetischen Waffenarsenale was die Atomwaffen betrifft, zu keiner Zeit an Qualität und an Quantität mit den amerikanischen mithalten. Aber im Grunde machte das gar nichts aus. Solange die Zweitschlagkapazität gesichert war, galt das Paradigma eines möglichen Atomkrieges. D.h. obwohl die SU mit den USA zu keiner Zeit mithalten konnte, konnten sie eine effektive Abschreckungspolitik betreiben. Die Folge war, dass aus dem Kalten Krieg zu keiner Zeit ein Heißer wurde. Wir hatten es bekannter Weise nur mit den Stellvertreterkriegen, wie in Vietnam oder Korea, mit gewissen Einschränkungen kann man wohl auch den Nahost-Konflikt dazu zählen, zu tun; oder mit Krisen, wie der Berlin oder Kubakrise. Manche habe diese Abwesenheit von Kriegshandlungen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis 89 mit Frieden gleichgesetzt; es war wohl eher ein Waffenstillstand.
Die Kriegsgefahr war gewaltig, das Zerstörungspotential zivilisationsvernichtend und daraus folgte ein Alpdruck aus Angst in den Gesellschaften. Kennedy bemühte sich um eine ernsthafte Entspannung mit der SU, gerade nach den Erfahrungen aus der Kuba-Krise. Doch auf echte Abrüstungen liess sich die SU nicht ein. Man einigte sich aber immerhin auf eine wichtige Regel, dass nämlich jede Seite ihr Nuklearwaffenpotential nicht über das der jeweils anderen Seite ausdehnen dürfe. So dass zu jeder Zeit Waffengleichheit herrschte.
Breschnew legte diesen Passus nun etwas anders aus. In seinen Augen war das für ihn ein Freibrief dafür, das sowjetische Waffenpotential an das US-amerikanische heranzuführen. Und das war wirtschaftlicher Selbstmord. Denn, Daschitschew analysiert das sehr genau, die Wirtschaftskraft der SU lag um Längen hinter der der Amerikaner. Deshalb musste hier ein weit grösserer Anteil am Bruttosozialprodukt dafür eingesetzt werden, als es in den USA nötig war. Im Grund führte diese Art der sowjetischen Nachrüstung, denn um nichts anderes handelte es sich dabei, dazu, dass die SU ca. 23 % ihrer Wirtschaftsleistungen fürs Militär aufbringen musste, während die überlegene USA für ein qualitativ und technologisch immer noch überlegenes Waffenarsenal nur 4% brauchten. In der SU litt die Bevölkerung unter dieser Politik, in den USA merkte sie es kaum. Das war der Unterschied zwischen beiden Staaten.
Und außerdem machte die SU sich jetzt angreifbar. Denn die amerikanischen Militärstrategen begriffen natürlich sehr gut, was die SU unter Breschnew da trieb. So gab es hier schnell Überlegungen, diese Strategie von Breschnew auszunutzen, um die SU wirtschaftlich in die Ende zu treiben; eine Politik, die später Ronald Reagan zugeschrieben wurde, der es geschafft hätte die SU gewissermaßen „totzurüsten“.
Konzept für einen sowjetischen Befreiungsschlag von Isolierung und Kaltem Krieg
Nach den vorangegangenen Überlegungen zeichnet sich eigentlich ab, in welche Richtung Daschitschews Überlegungen für die Befreiung der Sowjetunion aus der selbst-verursachten Isolierung und den dramatischen Folgen von Wettrüsten und Kaltem Krieg gingen, im Grunde gehen mussten.
In seinen Augen lag die erste Ursache des Kalten Krieges in der Stalin’schen Politik gegenüber den ost- und mitteleuropäischen Staaten, der Aufoktroyierung des kommunistischen Systems a la Russland, und ihrer Einverleibung in die sowjetische Machtsphäre. Die Antwort des Westens, die im Kalten Krieg, und in der Containment-Politik der USA bestanden, in deren Folge Wirtschaftssanktionen gegenüber der SU verhangen wurde, und die NATO gegründet wurde, hat dann der ohnehin wirtschaftlich schwächeren Sowjetunion zunehmend die Luft abgedreht, und dieses Land in seine in den 80er Jahren allen Mächten sichtbare Krise hineinschlittern lassen.
Die Sowjetunion musste die Isolierung aufbrechen, sie brauchte freundschaftliche Beziehungen zu den Staaten des Westens. Sie brauchte den wirtschaftlichen, kulturellen und technologischen Austausch mit den vitalen, westlichen Gesellschaften. Das war die Voraussetzung um innenpolitisch wieder handlungsfähig zu sein, den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben, und die Versorgung mit öffentlichen Gütern zu verbessern. Kurz sie brauchte ein vertrauensvolles Verhältnis zu den westlichen Ländern, das die SU unter Stalin und seinen Nachfolgern selbst vergiftet hatte.
Um aus dieser Krise herauszukommen bedurfte es laut Daschitschew sowohl einer außen- wie einer innenpolitischen Antwort. Außenpolitisch bedurfte es wieder eines vertrauensvollen Verhältnis zu den Staaten des Westens. Kurz die SU musste den Kalten Krieg beenden. Und um das zu erreichen musste sie zuerst die Staaten des Warschauer Pakts in die politischen Selbständigkeit entlassen. Sie musste ihnen Selbstbestimmung ermöglichen, und zwar eine Selbstbestimmung in allen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Fragen. Mit der Einverleibung dieser Staaten in die sowjetische Hemisphäre hatte der Kalte Krieg begonnen, ihre „Freilassung“ war die Voraussatzung dafür, ihn wieder zu beenden.
Überlegungen dieser Art hatte Daschitschew schon gegenüber der Administration von Andropow vorgetragen, wenn auch verklausuliert. Gegenüber Gorbatschow konnte er offener sprechen. Hier wird er deutlicher. Und er spricht auch die Folgen für Deutschland an. In Daschitschews Augen musste auch die DDR in die politische Selbständigkeit und Selbstbestimmung entlassen werden. Da hier aber, wie Daschitschew auch Mitte der 80er Jahre bereits bemerkt, der Wille nach einer „Wiedervereinigung“ stärker würde, musste sich die SU auch auf diesen Prozess einstellen. Später wird Daschitschew noch deutlicher. Er spricht dann von der deutschen Frage, als einem politischen Problem, in dem sich alle innereuropäischen Konfliktlagen miteinander verschlungen hätten. Er macht die Reformen in der SU von der Lösung der deutschen Frage abhängig. Und für ihn ist immer klar, dass Deutschland wiedervereinigt werden wird.
Gleichzeitig muss die SU auch ihr kommandowirtschaftliches System überwinden und zu marktwirtschaftlichen Strukturen kommen, wenn sie wirklichen Nutzen aus einer erfolgreichen Öffnungspolitik gegenüber dem Westen ziehen will. Auch hierfür entwickelt Daschitschew mehrere Konzepte.
Kommandowirtschaft und Wirtschaftsmisere
Daschitschew benennt die Ursachen der sowjetischen Wirtschaftsmisere sehr deutlich. Er sieht sie im Fehlen jeglicher marktwirtschaftlichen Elemente und ihrer zentralistischen, kommandoartigen Lenkungsinstrumente. Kurz er benennt die sowjetische Planwirtschaft als die eigentliche Ursache des Mangels, der Unterversorgung und des niedrigen Lebensniveaus der Bevölkerung. Die Planwirtschaft, die in dieser Form ja in allen Staaten des RGW existierte, und die die Kommunisten immer als ihren Markenkern empfunden und propagiert haben, wurde von ihm als die eigentliche Ursache von niedriger Produktivität, und permanenter Versorgungskrisen identifiziert. Daschitschew will die Wirtschaft dezentralisieren, er will mehr Verantwortung auf die betriebliche Ebene verlagern, er will die Betriebe selbständiger machen, er will sie handlungsfähiger machen, sowohl in Hinsicht auf die herzustellenden Produkte als auch in der Wahl der Handelspartner.
Er benennt auch deutlich die Strukturprobleme des Wirtschaftsverbundes der Staaten des RGW (Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe), der die Aufgabe hatte, die Verflechtung der Volkswirtschaften aller ost- und mitteleuropäischen Länder im Einflussbereich der SU zu organisieren. Auch hier sind es die Kommandostrukturen, die die Betriebe in eine Art Zwangsjacke stecken. Ihnen werden Handelsbeziehungen und Produktketten aufoktroyiert, statt sie selbst entscheiden zu lassen. Also eine Übertragung der nationalen Planwirtschaften auf die internationale Ebene.
Interessanterweise verweist er immer wieder bei seinen Reformvorschlägen auf wirtschaftliche Reformansätze in der DDR, auf die ökonomische Expertise der Wirtschaftswissenschaftler der DDR. Dabei nimmt er mehr Bezug auf deren Konzepte, als auf deren Erfolge. Denn echte Erfolge hatten die wirtschaftlichen Reformbemühungen der SED ja nicht. Das ist Daschitschew bewusst. Er kennt und benennt die Zusammenhänge: es war die Führung der KPdSU, die schon Ulbricht verwehrt hatte, stärkere marktwirtschaftliche Elemente einzuführen, als er dann gedurft hat. Kurz, der RGW war in den Augen von Daschitschew nichts anderes als ein Instrument der sowjetischen Hegemonialpolitik. Und so dürfen eben auch in wirtschaftlicher Hinsicht die sowjetischen Satellitenstaaten nur Politiken praktizieren, die den Herren in Moskau genehm sind.
Kritiker von Daschitschew wehrten die Ansätze der Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in die sowjetische Wirtschaft mit dem Verweis auf die Bodenschätze dieses Landes ab. Sie meinen, so zitiert Daschitschew, dass jede Milliarde Valuta, in den Export von Öl, Gas oder anderen Rohstoffen gesteckt, sich doppelt und dreifach stärker auszahlen würden, als noch so viele Reformbemühungen auf den anderen Baustellen der sowjetischen Wirtschaftspolitik es vermöchten. Dieses Totschlagsargument ist ein Problem für Russland bis in unsere Tage. Es ist der eigentliche Grund für die Rückständigkeit und technologische Schwäche der russischen Wirtschaft heute, die ihrer Bevölkerung keinerlei Perspektiven zu bieten vermag.
Und in der Hochphase der Entspannungspolitik, also jener Politik die von Willy Brandt ihren Ausgang nahm, als es im Westen eine große Investitionsbereitschaft in die sowjetische Wirtschaft hinein gab, und tatsächliche viel Kapital in dieses Riesenland hineinfloss, da führten die Kommandostrukturen der dortigen Wirtschaft dazu, dass es keinerlei positiven Effekte dieser Investitionen gab. Die Kredite verpufften und ließen nur Schuldenberge entstehen.
Deshalb, so Daschitschew müssten innen- und außenpolitische Reformen dringen Hand in Hand gehen. Nur eine reformierte, am Markt orientierte Wirtschaft sei in der Lage, so Daschitschew die Erfolge einer außenpolitischen Öffnungspolitik in die Hebung des Lebensniveaus der sowjetischen Bevölkerung zu lenken.
Bei allen seinen außenpolitischen Reformen ist Daschitschew immer an der Seite Gorbatschows; ja er begrüßt ihn als den ersten Führer der Sowjetunion, der nicht nur deren Probleme und Ursachen begriffen hat, sondern auch die notwendige Reformpolitik, und zwar innen wie außen einleitet, der aber bei seiner wirtschaftlichen Umgestaltungspolitik die falsche Reihenfolge gewählt habe. Wahrscheinlich hat er damit Recht. Aber er scheint ihr in meinen Augen nicht wirklich auf den Grund zu gehen. Wenn er auch Recht haben mag mit seiner Kritik, kratzt er leider doch nur an der Oberfläche der Wirtschaftsreformen Gorbatschow. Er ist zwar an einer der Kernfrage der Gorbatschow‘schen Politik, nämlich den Gründen seines Scheiterns. Denn Gorbatschow ist in den Augen der Russen nicht an seiner Außenpolitik gescheitert, sondern an den Effekten seiner Wirtschaftsreformen, die nirgendwo gehalten hatten, was Gorbatschow den Leuten versprochen hat. Deren Lebensniveau wurde in seiner Amtszeit immer schlechter. Während er die Sicherheiten der stalinistischen Ära schliff, und während damit ein Verfall gewachsener sozialer Strukturen einherging, schaffte er es nicht, die Perspektiven der Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen sichtbar und erlebbar zu machen. Die Leute konnten sich schlicht nichts kaufen für die Wirtschaftspolitik Gorbatschows.
Doch darüber redet Daschitschew so gut wie nicht. Und seine Kritik an der Wirtschaftspolitik verblasst auch angesichts der Anerkennung, die er Gorbatschow insgesamt immer zollt. Schließlich sind die beiden ein kongeniales Paar. Und auch Gorbatschow geizt nicht mit Anerkennung, die er sogar in sein Vorwort für Daschitschews Buch deutlich hat einfliessen lassen.
Die deutsche Teilung
Im Grunde ist Deutschland das Kernthema neben der Aufhebung der sowjetischen Hegemonialpolitik.
Immer wieder weisst er darauf hin, dass in der Deutschen Frage alle Probleme des Kalten Krieges, der Folgen der sowjetischen Hegemonialpolitik verwoben seien. Auch hier bleibt sich Daschitschew treu. Er sieht in der Stalin’schen Hegenominalpolitik die Ursachen der deutschen Teilung, allerdings nicht unmittelbar. Vielmehr war auch die deutsche Teilung, das heisst die Bildung des west- bzw. ostdeutschen Teilstaates ein Ergebnis der auf diese Hegemonialpolitik antwortenden Amerikaner. Letztere, und hier zitiert Daschitschew den amerikanischen Diplomaten J.F. Kennan, standen vor der Frage, wie sie verhindern konnten, dass von Deutschland nochmals ein Krieg ausgehen könnte, welcher die Amerikaner zwingen könnte, wieder in Europa einzugreifen. Sie wollten das nicht, sie wollten nicht noch einmal ihre Jungs über den Teich zu schütten, um für den Rest von Europa die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Zweimal hatten sie das getan, auch sie hatten bezahlt, die Zahl der Opfer war auch in den USA hoch.
Deshalb kamen die Amerikaner zu dem Schluss, und zwar schon in den 40er Jahren, dass ein selbstständiges, eigenstaatliches Deutschland, das nicht vor deutschen Sonderwegen gewappnet sei, das also erneut wieder in die Falle der beiden vorhergehenden Weltkriege gehen könnte, den Rest Europas beherrschen zu wollen, schlimmer sei, als ein geteiltes Deutschland. Das genau war die Gefahr, in die die Stalin’sche Deutschlandpolitik unser Land hätte bringen können. In dessen Ergebnis wäre Deutschland vielleicht blockfrei geworden, aber nicht demokratisch, und auch nicht einbindungsfähig in entsprechende westliche Sicherheitsstrukturen. Ein solches Deutschland konnten die Amerikaner nicht akzeptieren. Ein anderes Angebot aber bekamen sie aus Moskau aber nicht. Und so nahmen sie Vorlieb mit dem, was sie hatten, das war die vereinigte Trizone, die spätere Bundesrepublik. Die konnte eingebunden werden in die westlichen Strukturen, die wurde demokratisch, die verzichtete auf einen deutschen Sonderweg, und sie war nie souverän. Sprich, ein solches Deutschland stellte
keine Kriegsgefahr dar.
Die schreckliche Pointe des Hitler-Stalin-Paktes
Der Hitler-Stalin-Pakt gehört zweifellos zur Vorgeschichte des Kalten Krieges. Er war so fest zementiert in die sowjetische Geschichtspolitik, dass selbst Gorbatschow sich lange Zeit nicht traute, dieses Denkmal sowjetischer Selbstbeweihräucherung vom Sockel zu stossen.
Doch Daschitschew wird immer klarer, so schreibt er, dass die notwendige und von Gorbatschow ja bereits begonnene Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik mit zu grossen Widerständen zu kämpfen hatte, so lange sich die Legende von der Notwendigkeit dieses Paktes zwischen den beiden größten Diktatoren in der innersowjetischen Öffentlichkeit halten würde. Denn die in diesem Pakt beschlossene Aufteilung Ost- und Mitteleuropas legitimierte die Stalin’sche Hegemonial-, letztlich Expansionspolitik auch nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Er legitimierte direkt die Besetzung des Baltikums, genauso wie die Annexion Ostpolens. Mittelbar war jedoch auch die Schaffung des Gürtels der sowjetischen Satellitenstaaten davon betroffen, weil dies eine Folge des dem Hitler-Stalin-Paktes zu Grunde liegende politischen Denkens Stalins war.
Und so beginnt Daschitschew, faktisch im Alleingang, wenn man ihm glauben kann, den Hitler-Stalin-Pakt vom Sockel zu stossen. Und er macht klar, dass die Ursachen für den 22. Juni 41 noch viel tiefer in der sowjetischen Politik selbst ausfindig gemacht werden können, als bisher selbst im Westen angenommen. Im Grunde findet Daschitschew heraus, dass der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion ein Stück weit nicht einfach nur total überraschend war für Stalin, sondern von ihm selbst verschuldet, weil ermöglicht.
An dieser Stelle arbeitet Daschitschew wieder als Historiker. Er analysiert die Politik Stalins vor dem 2. Weltkrieg, erörtert dessen ideologisches Denken und seine Sicht auf die Entwicklungen zwischen den „imperialistischen“ Staaten des Westens.
Stalin habe, so Daschitschew immer mit einem Krieg zwischen den westlichen Staaten gerechnet. Dies folgt der leninistischen Imperialismus-Theorie. Ein solcher Krieg war in den Augen Stalins noch nicht einmal schlimm, weil sich der Imperialismus dadurch so schwächen würde, dass in dessen Ergebnis auch in anderen westlichen Staaten die Chance bestünde, eine kommunistische Umwälzung zu realisieren. Das heißt, Stalin sah in einem solchen Krieg erneut eine Hebamme für die kommunistische Weltrevolution, wie es bereits 1917 im zaristischen Rußland geschehen sei. Insofern war ein solcher Krieg nicht einfach nur als grausam einzuschätzen, abgesehen davon, dass Grausamkeit ja bekanntermassen keine Kategorie für Stalin war, sondern als eine Art Fortschrittsbringer. Für Stalin sei es also darauf angekommen, selber nicht in einen solchen Krieg hineingezogen zu werden, sondern nur von ihm zu profitieren. Insofern ist für ihn auch Hitler nicht einfach nur ein politischer Verbrecher, sondern ein Vehikel für den gesellschaftlichen Fortschritt. In diesem Zusammenhang erklärt Daschitschew übrigens auch, nahezu beiläufig, die Sozialfaschismus-Theorie, die sich gegen die deutschen Sozialdemokraten gerichtet hatte. Er erklärt, warum die Kommunisten mit den Sozialdemokraten in der Zeit vor der Machtergreifung Hitlers nicht gemeinsame Sache gemacht haben, um eben diese Machtergreifung zu verhindern. Das hängt schlicht damit zusammen, dass er die Machtergreifung Hitlers gar nicht verhindern wollte. Für Stalin war Hitler ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Weltrevolution. Stalin wollte, dass Hitler mit Grossbrittanien und Frankreich Krieg führte. Das war sein Ziel. Und das erklärt auch den Hitler-Stalin-Pakt.
Denn dieser Pakt ermöglicht es Stalin Frankreich zu überfallen, ohne mit einer breiten Koalition von Gegnern unter Einschluss der Sowjetunion rechnen zu müssen. Stalin liess sich seine Zustimmung vergolden. Er bekommt das Baltikum, Ostpolen und den Anspruch auf Finnland zurück. Er setzt also die zaristische Expansionspolitik fort, vollendet sie. Aber das ist nur ein Nebeneffekt. Der Haupteffekt ist für ihn, dass Hitler nun den Krieg im Westen beginnen kann, der dort zur Fortsetzung der kommunistischen Revolution führt.
Tatsächlich aber, und das ist die schreckliche Pointe dieses Paktes, ermöglicht er Hitler damit nicht nur den Sieg über Frankreich, und die Isolierung Großbritanniens, sondern auch den Überfall auf die SU. Stalin stärkt mit seinem Pakt mit Hitler diesen so gewaltig, dass Hitlers Deutschland zur alles beherrschenden Militärmacht Europas wird. Und dieses Hitlerdeutschland kann dann, nachdem Frankreich erledigt ist und Großbritannien handlungsunfähig, ruhig und unangefochten die Sowjetunion überfallen. Falsch gedacht. Nicht die kommunistische Weltrevolution war ausgebrochen, sondern nun sah sich die SU einem Vernichtungskrieg Hitlerdeutschlands gegenüber. Das hätte nicht sein müssen. Der Große Vaterländische Krieg, der so ruhmreich für die SU ausgegangen war, dass er bis heute die müden Kriegerseelen in Russland erfreut, war eben auch ein Ergebnis einer verhängnisvollen Fehleinschätzung Stalins.
All dies musste zum Vorschein kommen, wenn man die tatsächliche Politik Stalins analysierte und kommunizierte. Es ist klar, dass das wehtun musste. Und es ist klar, dass es einen so großen Widerstand in der Spitze des sowjetischen Staates gegen die Aufarbeitung dieses Paktes gegeben hat. Aber es ist eben auch klar, dass die Entlassung der ehemaligen Satellitenstaaten in die Selbstbestimmung nicht ohne die Aufarbeitung des Hitler-Stalin-Paktes gelingen konnte.
Stalin hat sein Leben lang an der Richtigkeit des Hitler-Stalin-Paktes festgehalten. Seine Nachfolger, bis auf Gorbatschow eben alle auch. Doch er legte die Grundlage für eine sowjetische Politik, die zum Schluss von Westen mit dem Kalten Krieg beantwortet wurde. Er schlug nicht nur auf Deutschland zurück, sondern auch auf Rußland selbst. Politische Fehler bleiben niemals ohne Folgen.
Die Deutsche Einheit, die Mauer und die Einbindung Deutschlands in die NATO
Gorbatschow musste eine ganze Reihe heiliger Kühe schlachten, um seine Reformpolitik durchsetzen zu können.
Es war klar, dass die Entlassung der sowjetischen Satellitenstaaten in die Selbstbestimmung für die DDR zu besonderen Problemen führen würde. Daschitschew beschreibt sie auch alle sehr genau. In der DDR würde die Ermöglichung der Selbstbestimmung sofort die Deutsche Frage in aller Schärfe aufwerfen, sprich die Selbstbestimmung der Ostdeutschen wäre sofort mit der Frage einer möglichen Wiedervereinigung, Deutsche Einheit wie sie dann genannt wird, verbunden. Und damit stünde hier fast noch schärfer als den übrigen Staaten des Warschauer Paktes die Frage der staatlichen Ordnung, die Frage einer Demokratie und sozialen Marktwirtschaft für alle, das weitere Schicksal Berlins inbegriffen und letztlich sogar die Frage der Zugehörigkeit Deutschlands zu einem westlichen Sicherheitsbündnis, also der NATO. Denn Deutschland konnte keineswegs beiden Bündnissen gemeinsam angehören. Für die Stalinisten in Russland war das schwer, eigentlich gar nicht hinnehmbar. Denn die DDR war der Außenposten des stalinistischen Russlands, sie war das Wahrzeichen des grössten Erfolgs seiner Annexionspolitik, und sie war das Siegel für den Sieg der Sowjetunion im Grossen Vaterländischen Krieg, nicht zuletzt auch von stalinistischer Seite aus ein Garant, dass Deutschland keinen Krieg mehr gegen Rußland führen könnte. Doch all dies, was gewiss schwer wog, löste die inneren Probleme Rußlands nicht, nicht den Hunger, nicht die Versorgungskrisen, nicht die Rückständigkeit der Wirtschaft und nicht die Probleme einer alle wirtschaftlichen Ressourcen verschlingenden atomaren Hochrüstung im Kalten Krieg. Die Sowjetunion musste da raus. Und deshalb konnte Gorbatschow seine Reformpolitik nicht an der Deutschen Teilung scheitern lassen. Das wird ihm von Anfang an klar gewesen sein.
Daschitschew war es nicht nur klar, er schreibt seine Expertisen darüber, und giesst sie in außenpolitische Konzepte, sprich Handlungsanleitungen. Sie lesen sich bis heute bestechend. Und wenn man bedenkt, dass sie in den 80er Jahren geschrieben wurde, wo kein nennenswerter Politiker weder in Ost- noch Westdeutschland sich je getraut hat, über diese nationalen Perspektiven nachzudenken, geschweige denn zu reden, sind sie von einer außerordentlichen Weitsicht geprägt.
Und er hilft Gorbatschow nun auch zunehmend nicht nur als Denker, sondern auch mit Interviews in der Öffentlichkeit die alten russisch-stalinistischen Tabus zu überwinden. So spricht er in einer Pressekonferenz von der Mauer als „einem Relikt“ des Kalten Krieges, was grossen Staub in Westdeutschland, Ostberlin und Moskau aufwirbelt. Daschitschew will die Deutsche Einheit regelrecht, und als 1989 tatsächlich möglich wird, und an der Frage der Zugehörigkeit eines wiedervereinigten Deutschlands zur NATO von sowjetischer Seite fast zu scheitern droht, hilft er Gorbatschow auch über dieses Stöckchen zu springen.
Allerdings ist zu vermuten, dass Gorbatschow die Unabweisbarkeit der Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur NATO auf Grund der Logik seiner eigenen Politik wahrscheinlich lange vorher klar war. Denn Gorbatschow hatte ja Ernst gemacht mit seiner Selbstbestimmungspolitik für die Satellitenstaaten. Er hatte Ernst gemacht mit der Abrüstung, er vernichtete inzwischen die SS20, er wollte den Kalten Krieg beenden, und er hatte öffentlich erklärt, dass die Frage der Selbstbestimmung das Recht eines jeden Staates auch die Zugehörigkeit zu einem Militärbündnis der eigenen Wahl einschließt. Er hatte keine Bedingungen dafür formuliert. Er hatte kein Feindbild mehr. Und er hatte auch ideologisch mit dem Klassenkampf Schluss gemacht, wie Condoleezza Rice es an anderer Stelle formuliert. Nicht zuletzt wollte er die Sowjetunion zu einem zwar starken aber gleichberechtigten Mitglied der internationalen und europäischen Staatengemeinschaft machen. Wie sollte ihm da der Zusammenhang mit Deutschland nicht klar sein? All dies musste auch für Deutschland gelten. Doch er musste auf seine Hardliner Rücksicht nehmen, und er musste versuchen, einen Preis dafür zu bekommen. Der große Vorteil von Daschitschews Wirken besteht darin, dass er diese Überlegungen und Strategien formuliert, aktenkundig macht, dass er sie eingespeist hat in die Debatten der sowjetischen Führung dieser Tage, dass er geholfen hat, die Gorbatschow‘sche Politik durchzusetzen. So formuliert es Gorbatschow übrigens in seinem Vorwort auch. Daschitschew ist nicht der Urheber dieser Politik, aber er ist zu ihrem unabhängigen Sprachrohr geworden, und er treibt sie voran.
Der Untergang Honeckers
Honecker wird von Daschitschew durchweg als Stalinist bezeichnet. Nicht, weil Honeckers Persönlichkeit ähnlich sadistische Züge getragen hätte, wie die von Stalin, sondern weil die DDR das Ergebnis Stalin’scher Außenpolitik ist, an der, an damit an ihren stalinistischen Voraussetzungen Honecker schon deshalb festhielt, weil er sich gar nichts anderes vorstellen konnte, und für ihn der Untergang der DDR gleichbedeutend mit dem Untergang des Sozialismus war.
In der Spätphase der DDR greift Daschitschew mehrere Male in die Geschicke der DDR ein, und schildert hierzulande fast unbekannte Momente. Es ist ja nicht so, dass die Politbüroriege um Honecker nicht gewusst hätte, was die Glocke mit der neuen Politik Gorbatschows für ihre DDR geschlagen hatte. Aber sie war handlungsunfähig. In der DDR hatte nicht die SED die Macht, erst recht nicht die eigene Bevölkerung, sondern die Rote Armee. Dirigiert wurde dieser Staat aus Moskau. Er war der Souverän in der DDR. Und dieser Souverän liess seinen Staat jetzt fallen. Die SED, Dienerin Moskaus wurde fallengelassen, obwohl sie doch immer so treu gewesen war. Die SED war regelrecht verzweifelt, und Honecker war persönlich betroffen. Auf dem letzten Treffen des Warschauer Paktes, als Gorbatschow den anwesenden Staatschefs seiner ehemaligen Satellitenstaaten erklärte, dass sie jetzt frei sind, dass die SU sich in ihr Schicksal nicht mehr einmischen wird, dass sie ihre Zukunft selbst bestimmen werden, dass die Prinzipien der KSZE – Schlussakte auch für sie gelten, dass sie über ihre Grenzen bestimmten, über ihre Partner und über ihre Bündnisse, dass es keinen Klassenkampf mehr geben wird, und dass es auch nicht mehr um den Kommunismus geht, sondern nur noch um Selbstbestimmung, als also Gorbatschow im Grund den Warschauer Pakt für unnötig erklärt, 1989 im Frühling war das, da bekommt Honecker einen Kreislaufkollaps. Von da an ist er krank. Er verlässt das Treffen vorzeitig, und wird in Berlin in die Charité eingeliefert. Aber seine Krankheit ist die Folge des Zusammenbruchs seines politischen Koordinatensystems. Da können ihm die Ärzte nicht helfen. Sein Leiden hat andere Ursachen.
Im Politibüro scheint man der Meinung gewesen zu sein, dass die Halsstarrigkeit Honeckers das eigentliche Problem sei, dass er inzwischen der SED schade. Daschitschew schildert, dass 1989, und zwar vor Ausbruch der friedlichen Revolution gleich zweimal Politbüro-Mitglieder der SED bei Gorbatschow vorstellig wurden, um Honecker abzusetzen. Der Eine war Mielke, der andere scheint Joachim Herrmann gewesen zu sein. Beide blitzen ab. Gorbatschow schützt Honecker nicht, aber er macht Ernst mit seiner Ansage der Selbstbestimmung. Es geht ihn einfach nichts mehr an. Das ist jetzt Sache der SED, dessen Politibüros.
Daschitschew beklagt sich über die Untätigkeit der SED, in Sachen Reformen. Er sieht, dass die Verhältnisse sich verselbständigen. Er sieht, dass die SED nicht nur unwillig, sondern geradezu hilflos ist. Und da fährt er auf Einladung der sowjetischen Botschafters Kotschemassow in die Botschaft nach Ost-Berlin unter den Linden, zweimal. Beim letzten Gespräch im Juli 1989 hat der Botschafter gleich das gesamte politische Personal der Botschaft hinzugebeten. Daschitschews Lageanalyse wird vom anwesenden KGB-Vertreter in allen Belangen unterstützt. Man verabredet sich darauf den Entwicklungen in der DDR ihren Lauf zu lassen und sich herauszuhalten. Daschitschew spürt, dass in der DDR der Zug in Richtung Einheit, nicht einfach nur der Entmachtung der SED abgefahren ist. Er befürwortet diese Entwicklung. Sie ist notwendig, um die Gorbatschow’schen Reformen zum Erfolg zu führen. Hier ist Daschitschew eben mehr als nur ein Berater Gorbatschow. Er war auch ein handelnder Akteur dieser Entwicklung zur Deutschen Einheit.
Irrtümer und Fehler
Man kann Daschitschew nicht in allem zustimmen. So ist er ein bekennender Anhänger der Konvergenz-Theorie gewesen. Er ging davon aus, dass sich die beiden Systeme: Kapitalismus und Sozialismus auf einander zu bewegen würden, dass sie in ein gemeinsames Modell münden würden. Davon lässt er sich in den 80er Jahren noch leiten, als diese Theorie schön längst perdu war, weil sich spätestens mit dem Einmarsch der Sowjetischen Armee in Prag 68 der Traum von einer Demokratisierung des Kommunismus zerschlagen hat. Nun ist dieser Einmarsch für Daschitschew aber ein schwerer, letztlich vermeidbarer Fehler gewesen. Denn eigentlich, so meint er, ergab sich durch den Prager Frühling auch für die die Sowjetunion die Gelegenheit, mit demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen zu beginnen. Er hat den Einmarsch für verzichtbar gehalten. Das liegt auch in der Logik seines eigenen politischen Ansatzes der Beendigung der sowjetischen Hegemonialpolitik.
Und er macht sich keine Sorgen um die Zukunft des Sozialismus in den sowjetischen Satellitenstaaten vor dem Epochenwechsel von 1989/90. Er meint, dass die neuen gesellschaftlichen Strukturen, die der Kommunismus geschaffen hätte, so stark seien, dass sie die nötige Demokratisierung überstehen ohne ihre eigene sozialistische Entwicklung ad acta zu legen. Immerhin räumt er ein, dass er sich mit dieser Einschätzung geirrt habe.
Doch vorher stellt er intensive Vergleiche an zwischen den Widersprüchen in den demokratischen, kapitalistischen Ländern und den kommunistischen, die die kommunistische Diktatur etwas verharmlosen. So sei der Unterschied zwischen Arm und Reich, in seinen Augen genauso schlimm, wie die Politbürokratie im Osten Europas. Das passt insofern auch nicht ins Bild, als dass er selbst ja die Rückständigkeit des Ostens erkennt, und zwar in Wirtschaft und Kultur.
Vielleicht war sein Festhalten an einigen ideologischen Rudimenten der kommunistischen Weltanschauung auch der Versuch, den eigenen Leuten sein Reformkonzept schmackhaft zu machen; mehr Wunsch als Wirklichkeit. Einerseits räumt er die Überlegenheit der Demokratie gegenüber den kommunistischen Systemen ein. Andererseits meint er, diese Demokratie müsse um sozialistische Elemente ergänzt werden. Da ist er wieder ganz der Anhänger der Konvergenztheorie. Und wer so denkt, für den ist es auch denkbar, dass sich aus der Politbürokratie und der kommunistischen Funktionärsschicht dereinst die neue demokratische Elite herausbildet, wenn denn der Kommunismus sich mal demokratisiert hat.
Ich musste an dieser Stelle an eine sozialdemokratische Fehleinschätzung denken, die davon ausging, dass sich aus der SED eine demokratische Kraft entwickeln könne. Bahr hat so gedacht im Westen, aber Thierse im Osten ja auch.
Wie gesagt, Daschitschew räumt ein, dass er sich geirrt habe. Und seine Leistungen überwiegen doch deutlich gegenüber seinem Festhalten an der Konvergenztheorie. Er ist nicht der einzige produktive Denker, dem Fehleinschätzungen unterlaufen sind. Trauriger Weise hinterlassen sie mit ihrem ganzen Denken Spuren.
Fazit
Dem Streben nach Hegemonie liegt das Scheitern inne. Daschitschew greift mit dieser These von Clausewitz, die Politik Stalins an, und erkennt die inneren sowjetischen Ursachen für Kalten Krieg, Ressourcenverschwendung, Isolation und die Krise des eigenen Systems. Er entwickelt ein Konzept, welches im Aufgeben des hegemonialen Machtanspruches die Voraussetzung für den Frieden in der Welt, ein friedliches Miteinander und eine gedeihliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung im eigenen Land erkennt. In Gorbatschow hat er seinen kongenialen Partner gefunden, der sich von diesen Ideen leiten lässt und sie in operative Politik giesst. Mit ihm gelingt der Sowjetunion die Überwindung des Kalten Krieges und der Isolation des eigenen Landes. Wir Deutsche verdanken dieser Politik die Einheit unseres Landes, und seine Wiedereingliederung in eine Gemeinschaft demokratischer, selbstbewusster und selbstbestimmter Staaten. Ohne den Paradigmenwechsel, den Gorbatschow vollzogen und Daschitschew vorausgedacht hat, wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen.
Daschitschew war ein russischer Intellektueller, ein kluger und vorausschauender Denker, und darin so selbständig, dass er in der Lage war, über mehrere Jahrzehnte selbst Teil der Nomenklatura, die Sowjetunion anders zu denken, als sie sich ihm präsentiert hat. Er hat sich nicht angepasst, sondern er ist seinen eigenen Weg gegangen.
Deutschland hat Daschitschew inspiriert. Es faszinierte ihn, er lernt aus seiner Geschichte, von seinen Denkern, ja, von seinen Politikern. Clausewitz liefert ihm den Schlüssel für historische und politische Analyse. Er wird nicht müde, Ludwig Beck, zu loben. Wahrscheinlich erkennt er sich in ihm sogar wieder. Schließlich weist die jeweilige persönliche Lage, in der sich sowohl der Generaloberst und der Wissenschaftler befunden haben, eine ganze Reihe von Analogien auf. Beide hatten Erkenntnisse, die sie in den Gegensatz zur jeweils vorherrschenden Politik gebracht haben. Beide agierten im Zentrum ihrer jeweiligen Herrschaftsstrukturen. Beide standen ihre Haltungen durch, suchten nach Wegen, ihre Erkenntnisse zu realisieren. Daschitschew hatte das Glück des Erfolgs seiner Überlegungen teilhaftig zu werden. Beck ist aufrechten Hauptes von Hitler hingerichtet worden.
Wir sehen gemeinhin immer in Rußland ein rückständiges Gebilde, ein Gebilde vor dem man Angst haben muss. Dieses Bild ist unvollständig. Denn Rußland ist auch ein Land, das Menschen wie Daschitschew und Gorbatschow hervor- und in einflussreiche Positionen gebracht hat. Wenn es Rußland dereinst gelingt, Demokratie und Rechtsstaat durchzusetzen, und sich von der Erneuerung hegemonialer Politik wieder frei zu machen, wenn es sich also komplett und vollständig den westlichen Werten verschreibt, dann kann es ein Segen für die Völkergemeinschaft werden.