Zur sozialen und kulturellen Zukunft Europas
Kurzbesprechung
Ulrich von Alemann/Eva G. Heidbrecher/ Hartwig Hummel/Domenica Dreyer/Anne Gödde (Hrsg), Ein soziales Europa ist möglich, Grundlagen und Handlungsoptionen, Wiesbaden 2015, 367 S.
Sabine Riedel, Die kulturelle Zukunft Europas, Demokratien in Zeiten globaler Umbrüche, Wiesbaden 2015, 292 S.
Die beiden vorliegenden Bände beschäftigen sich mit Erosionserscheinungen in der heutigen Europäischen Union. Während Sabine Riedel sich dabei mit der Dramatik wachsender nationalistischer Tendenzen in Europa und an seinen Grenzen auseinandersetzt, thematisiert die Herausgebergemeinschaft um Hartwig Hummel insgesamt etwas positiver gestimmt die Gefahren für den sozialen Zusammenhalt in der europäischen Staatengemeinschaft die sich aus den Phänomenen wie hoher Jugendarbeitslosigkeit, dem Auseinanderdriften von Arm und Reich und dem Diktat reicher Mitgliedsländer gegenüber schwachen Schuldnerländer, und dessen Folgen ergeben.
Frau Riedel, Mitarbeiterin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gelingt es, mit Hilfe einer präzisen Begrifflichkeit und der Gegenüberstellung von Willensnation und Kulturnation, den Unterschied zwischen modernen Nationalstaat, der frei von Diskriminierungen allen Bürgern gleiche Rechte vermittelt, gegen einen eigentlich überwunden geglaubten neuen Nationalismus, in dessen Zentrum die Betonung ethnischer Zugehörigkeiten steht, und die daraus erwachsenden Gefahren herauszuarbeiten. Sie spannt einen Bogen dieser Tendenzen vom Baltikum, wo wie z.B. in Estland der 40%-russisch-sprachige Bevölkerungsanteil heute staatenlos ist, über Ungarn, wo Orban sich seine Macht auch mithilfe des Wahlrechts von Millionen Auslandsungarn sichert, über westeuropäische Separationsbestrebungen bis hin zum Nationalismus an unseren Aussengrenzen wie z.B. in der Türkei, deren Nationalismus sich außerdem eines staatlich kontrollierten und gesteuerten Islam bedient.
Im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in der Ukraine, zu dem ein Brüsseler Spitzenbeamter mal bemerkte, dass das nur die Spitze des Eisberges möglicher ethnisch bedingter, kriegerischer Auseinandersetzungen in ganz Osteuropa sei, gelingt es der Autorin deutlich zu machen, dass an unseren europäischen Außengrenzen Gefahren drohen, die den Zusammenhalt, ja möglicherweise die Existenz der Europäischen Union selbst in Frage zu stellen geeignet sind. Sicher, wer einzelne Ethnien privilegiert, diskriminiert andere. Ungleichbehandlungen führen zu sozialen Spannungen und destabilisieren ganze Staaten. Das passiert zur Zeit durch Ungarn, Rumänien und Bulgarien, von den bis heute nicht überwundenen, nationalistischen Tendenzen in Exjugoslawien ganz zu schweigen.
Demgegenüber stellen die Autoren mit der Thematisierung eines sozialen Europas die Erfolge um die Verankerung von Sozialpolitik in den Rechtlichen Grundlagen der europäischen Union heraus. Mehrere Beiträge zu der Verrechtlichung sozialer Grundrechte, ihren Inhalten, Grenzen und Perspektiven, und ihre weitere Verankerung durch den Europäischen Gerichtshof sind profund und empfehlenswert.
Dabei gelingt es dem Band durch die Komplexität des EU-Rechts und die europäische Bürokratie hindurch gerade auf die substanziellen und lebensnahen Wirkungen dieser neuen Sozialaspekte der Europäischen Union abzuheben. Andererseits thematisiert der Band natürlich auch die europäischen Demokratiedefizite; das kann gar nicht ausbleiben, wenn man die Notwendigkeit und die Möglichkeiten demokratischer Kontrolle und Öffentlichkeit beschreibt. Und spätestens bei der Beschreibung der Wirkungen der europäischen Fiskalpolitik gegenüber Griechenland, aber auch Italien, Spanien und Portugal wird deutlich, wieviel verbrannte Erde bei jenen entstanden ist, welche durch eine bessere Sozialpolitik Europas überhaupt erreicht werden sollen.
Das alte Paradigma, dass die europäische Entwicklung durch seine Krisen gefördert wird, muss sich jetzt aufs neue beweisen, sonst droht Absturz.
Der Text wird im Jahrbuch für Extremismus & Demokratie Band 28, 2016 erscheinen