Die DDR - eine späte Folge der 1.Weltkriegspolitik des Wilhelminischen Deutschlands ?

Elisabeth Heresch:

 

„Geheimakte Parvus

Die gekaufte Revolution“

 

Gebundene Ausgabe: 400 Seiten,

Verlag: Herbig, F A;

Auflage: 2 (24. Januar 2013)

ISBN-10: 3776650389

ISBN-13: 978-3776650389

 

Die Geschichte ist schnell erzählt. Sie ist, auch wenn ihre Pointe - Lenins Reise durch Deutschland 1917 in einem Kurswagen der Reichsbahn nach Petrograd unter dem Schutz und als Bestandteil eines deutschen Komplottes gegen das feindliche Russland - inzwischen zum historischen Allgemeingut gehört, deutlich mehr, als nur diese eine Anekdote.

 

Ein russischer Jude, Alexander Parvus, eigentlich Israil Lasarewitsch Gelphand, hat eine Möglichkeit gefunden, seine Vision einer Revolution in Russland mit ungewöhnlichen Mitteln zu verwirklichen. Er bedient sich dabei Deutschlands, das sich im ersten Weltkrieg im Zweifrontenkrieg befindet und Interesse daran hat, mit Russland zu einem Separatfrieden zu kommen, um seine militärischen Ressourcen auf die Westfront konzentrieren zu können. Für Gelphand, Publizist und Ökonom ist der Krieg ein Katalysator revolutionärer Veränderungen. Er stürzt die Menschen ins Elend, schafft Notlagen und Unzufriedenheit, die einen revolutionären Umsturz begünstigen. Das hat 1905 fast geklappt. Damals war es der japanisch-russische Krieg, der zum Auslöser einer Revolution wird. Doch der Zar kann ihr durch Zugeständnisse die Spitze nehmen. Eine Revolution im Gelphan‘schen Sinne findet daher nicht statt. Gleichwohl scheint sich seine revolutionäre Strategie zu bestätigen. Gelphand beteiligt sich an diesen Umsturzversuchen intensiv, gemeinsam mit Trotzki, der sich als gelehriger Schüler erweist. Das Abenteuer endet mit der Verbannung von Gelphand, der aber fliehen kann.

 

Im Grunde wartet Gelphand nun auf den nächsten Krieg, von dem er sich die Erfüllung seiner Hoffnungen verspricht. In der Zwischenzeit betätigt er sich als Publizist, spielt eine schillernde Rolle in der deutschen Sozialdemokratie, macht sich verschiedentlich unmöglich, wird von der Polizei gesucht, nimmt deshalb den Decknamen Alexander Parvus an und geht schließlich nach Istanbul. Hier macht er eine Karriere als Kaufmann und wird, auf Grund seiner Geschäfte bei der türkischen Aufrüstung zum Millionär.

Hier in Istanbul entwickelt er 1915 seinen Plan für die russische Revolution, in der Deutschland eine Schlüsselrolle zukommt. Es soll diese Revolution finanzieren. Und es würde dafür seinen Separatfrieden erhalten. Der Plan ist so einfach wie genial. Er ist im Buch „Geheimakte Parvus – Die gekaufte Revolution“ von Elisabeth Heresch dokumentiert. Sie hat sich die Mühe gemacht, das Leben von Gelphand nachzurecherchieren, und es in einer spannenden und unterhaltsamen Lektüre verarbeitet.

 

Deutschland geht auf diese Vorstellungen von Parvus ein. 1915 hatte sich herausgestellt, dass das russische Zarenreich mit militärischen Mitteln alleine nicht zu besiegen war. Auch hier, wie im Westen ist ein Stellungskrieg ausgebrochen. Nur wenn das zaristische Russland gleichzeitig von inneren Kräften zersetzt würde, sah Deutschland damals noch eine Chance, dieses Land zu besiegen. Und so trifft Parvus mit seinem eigenen Plan auf offene Ohren. Erst leiht sie ihm der deutsche Botschafter in Istanbul, dann ein Staatssekretär in Berlin. Genehmigt wird der Plan durch den deutschen Reichskanzler, von Bethmann-Hollweg selbst. Es sind also im Zentrum Politiker, und keine Militärs alleine, die Deutschland zur Partnerschaft mit Parvus führen.

Er benutzt Deutschland für seine revolutionären Pläne. Und Deutschland benutzt die russische Revolution für die Erreichung seiner Kriegsziele. Man kann das unmoralisch nennen, und doch vereinigen sich hier gemeinsame Interessen in gemeinsamen Handeln. Das ist entscheidend.

 

Man einigt sich, und sofort fließen Millionen für die revolutionäre Wühltätigkeit. Das Ganze geht schnell in zweistellige Millionenbeträge deutscher Reichsmark. Am Ende sind es wohl Milliarden, die das Wilhelminische Reich hier hineinfließen lässt. Parvus entwickelt eine eigene Finanzierung seines Agentennetzes. Er bedient sich dabei seiner europäischen und russischen Kontakte. Und er bedient sich der Bolschewiki von Lenin, den er in der Schweiz besucht. Zwar ist Lenin von der Vorstellung, dass sich er für seine eigenen revolutionären Ziele in eine Kumpanei mit dem „imperialistischen“ Deutschland begeben muss, nicht begeistert, und Parvus gefällt ihm überhaupt nicht. Aber Lenin begreift wohl sofort, welche eine Chance die Bereitschaft Deutschlands diese, seine Revolution zu finanzieren für seine eigenen politischen Vorstellungen bedeutet. Er lässt sich auf dieses waghalsige Spiel ein. Dafür ist genug Pragmatiker und Machtpolitiker.

Das Konzept geht auf, wenn auch nicht so schnell, wie Parvus vorgeschwebt hatte. Er rechnete bereits 1916 mit revolutionären Veränderungen. Doch Russland gelingt es, sich zu konsolidieren, und sowohl seine Kriegführung wie auch seine inneren Verhältnisse zu stabilisieren.

 

Ein Glücksumstand kommt schließlich dem Komplott zu Gute: Rasputin, ein eigenes Thema. Es ist abenteuerlich, was dieser Mann für einen Einfluss im zaristischen Staatsgebilde entwickelt hat. Und dieser Einfluss wirkt sich so zerstörerisch für die russische Monarchie aus, dass man sagen kann, ohne Rasputin kein Lenin. Zwar wird Rasputin zum Schluss ermordet, aber da ist es zu spät. Der Zar dankt ab, eine bürgerliche Regierung übernimmt die Macht. Die Verhältnisse sind ins Tanzen geraten. Eine perfekte Voraussetzung für den bolschewistischen Umschwung. Daran hat Deutschland noch immer ein Interesse weil auch die Kerenski‘sche Übergangsregierung kein Interesse an einem Separatfrieden mit Deutschland hat, dafür ist sie zu patriotisch gestimmt. So geht die Wühltätigkeit weiter. Und jetzt wird es für Lenin wichtig, dass er selbst in Russland ist. So lässt er sich auf diese gespenstische Zugfahrt, quer durch Deutschland, dann Schweden und Finnland bis nach Petersburg ein.

 

In Berlin kommt es dabei zu einer Begegnung mit einem Vertreter der deutschen Reichsregierung, auf der möglicherweise bereits die Grundzüge eines Separatfriedens besprochen werden.

 

Der Rest ist bekannt. Das Konzept von Parvus ist 100%-tig realisiert. Nur, Lenin will nichts mehr von ihm wissen. Er, Lenin war ein Werkzeug für Parvus. Aber Parvus war auch ein Werkzeug für Lenin. Lenin braucht ihn nicht mehr, will ihn nicht. Er hat jetzt die Macht, das wollte er immer. Er wird sie behalten.

 

Deutschland bekommt zwar den Separatfrieden mit Russland. Russland muss gewaltig bezahlen dafür. Als Raubfrieden von Brest-Litowsk, gehen seine gewaltigen Gebietsverluste in die Geschichte ein. Das Baltikum wird selbständig, Finnland entsteht. Polen wird wieder selbständig. Darüber hinaus verliert Russland Teile der Ukraine.

Doch Deutschland nutzt dieser Friede nichts. Denn auch mit den nun frei gewordenen militärischen Mitteln kann es den Krieg an der Westfront nicht gewinnen. Seine Niederlage und Demütigung im Versailler Vertrag wird zum wesentlichen Ergebnis des 1. Weltkrieges.

 

Am Ende bekommt Deutschland die Rückwirkungen seines revolutionären Komplottes zu spüren. Der Ausbruch der November-Revolution von 1918, die Arbeiter- und Soldatenräte folgen auch dem russisch bolschewistischen Vorbild. Der Export der Revolution nach Deutschland war für Parvus und Lenin die Pointe und letztliche Legitimation ihrer Kollaboration mit dem Wilhelminischen Deutschland. Die Bolschewiki und ihre Sowjetunion werden alles daran setzen ihre Revolution nach Westeuropa zu exportieren. Ihre Spuren sind bis 1989 zu besichtigen.

 

Festzuhalten von der ganzen Geschichte bleibt Folgendes:

 

  • Nicht der deutsche Generalstab mit seiner militärischen Engführung und Schmalsichtigkeit alleine hat dieses Komplott in Russland inszeniert, es war die deutsche Politik selbst. Zivilisten, und wahrscheinlich auch der Kaiser haben dieses Konzept von Parvus gutgeheißen, sich in seinen revolutionären Karren einspannen lassen, und damit für einen der größten Destabilisierungsfaktoren in der europäischen Sicherheitsarchitektur im letzten Jahrhundert gesorgt. Die Installierung der Bolschewiki in Russland muss in einem Atemzug genannt werden mit den Versailler Friedensverträgen die auf ihre Weise den nächsten Krieg in Deutschland vorbereiten halfen. Doch die Vorbedingungen für das Stalin‘sche Wirken ist die bolschewistische Revolution, die ohne deutsche Reichsregierung wohl keine Chance gehabt hätte. Selbst die DDR kann man erklären als eine späte Folge des bolschewistischen Putsches 1917.
  • Es ist ein erstaunlich, was das Wirken eines Mannes, Israil Larisewitsch Gelphand, alias Parvus für die Weltgeschichte bedeutet. In seinem Kopf ist das Konzept geboren worden. Er hat es umgesetzt. Auch wenn er seinen Lohn dafür nicht erhalten hat, sind alle anderen Ziele eingetroffen. Wieder einmal kann man sehen, welchen Einfluss Einzelne in der Politik erlangen können, wenn sie es mit Intelligenz und Realpolitik versuchen. Aber man kann eben auch sehen, wie verheerend die Auswirkungen solcher Art von Einflussnahme sein können.
  • Parvus hat die deutsche Reichsregierung benutzt, so wie diese gedachte ihn zu benutzen. Jeder hat sein Ziel erreicht. Niemanden von beiden hat es zum Schluss etwas genutzt. Der Sieger war Lenin. So hatte sich auch Deutschland das Ende des Putsches nicht vorgestellt.
  • Das Problem ist überhaupt, dass weder Bethmann-Hollweg, der damalige Reichskanzler noch der Kaiser, noch die daran beteiligten Personen sich über die weiteren Folgen ihres Handelns irgendwelche Gedanken gemacht haben. Sie haben nicht in Schritten gedacht. Sie waren nicht weitsichtig. Sie waren fokussiert auf den Separatfrieden und die Schwächung Russlands. Dass sie ein Rad in Bewegung setzen könnten, das zum Schluss in der Teilung Deutschlands enden könnte, in der größten Ausdehnung des russischen Imperiums, ja gar des Kalten Krieges, ist ihnen nicht im Traum in den Sinn gekommen. Immerhin hat der habsburgische Thronfolger 1917 Kaiser Wilhelm angefleht, nicht die russische Monarchie zu vernichten. Doch Wilhelm war das egal. Der Sieg im Krieg war ihm alles.
  • Erstaunlich ist auch, wie wenig Russland, dass das Wirken von Parvus genau beobachtete, seine Ziele und seine Agententätigkeit kannte, in der Lage war, etwas gegen diese Wühltätigkeit zu unternehmen. Auch der Ministerpräsident der russischen Übergangsregierung Kerenski, war informiert. Aber er kämpfte auf verschiedenen Schauplätzen gleichzeitig. Zum Schluss unterschätzte er wohl die Lenin‘schen Umsturzpläne. Als die roten Garden den Winterpalast stürmen, stehen da keine Wachmannschaften, um russische Regierung zu schützen. Damit ist die demokratische Phase Russlands bereits nach wenigen Monaten wieder zu Ende.
  • Bemerkenswert ist zum Schluss, wie sehr Alexander Parvus eingebettet ist in die deutsche Sozialdemokratie dieser Zeit. Er ist Mitarbeiter von Kautsky, kennt Rosa Luxemburg. Seine Beiträge finden großes Interesse. Zwar hat er sich in Folge einer Veruntreuung unmöglich gemacht in diesen Kreisen, aber das hindert Ebert und Scheidemann nicht, ihn währende der Hochphase seiner revolutionären Wühltätigkeit mehrere Male zu besuchen. Er ist also ein gefragter Gesprächspartner. Er ist einer der Ihren, auch wenn er manchen wohl dubios erscheint. Damals trägt die Sozialdemokratie noch die widersprüchlichsten revolutionären Konzepte in sich. Marx und sein kommunistisches Manifest gehören zum ideologischen Kernbestand. Außerdem versteht sie sich zutiefst internationalistisch. Und das zaristische Russland ist in ihren Augen – nicht zu Unrecht – eines der rückständigsten europäischen Länder überhaupt. Das erklärt vieles.

 

16-07-08 Akte Parvus.pdf
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