Gewogen und zu leicht befunden

Ich habe gelesen:

Sozialdemokratie in Brandenburg (1933-1989/90)

 

Lebenswege zwischen Widerstand, Vereinnahmung und Neubeginn 

 

Herausgegeben von Willi Carl, Marin Gorholt und Sabine Hering 

 

Dietz-Verlag, 2022, Bonn

 

Broschiert, 335 Seiten

 

Auf dieses Buch habe ich gewartet. Niemand vorher hatte sich dieses Themas bisher angenommen. Das verdient Beifall und Respekt, immerhin.

 

Das Buch war mir auch angekündigt worden. Auch deshalb habe ich gewartet, zuletzt auch deshalb, weil in der Presse zu lesen war, hierin würden auch Kritiker von Stolpe zu Worte kommen. Das allerdings machte mich misstrauisch. Aber klar, wer über die Brandenburger SPD seit 1989/90 schreibt, der kommt um Stolpe und seine dunklen Seiten nicht herum.  

 

Mir ist völlig klar, dass ich in Sachen Stolpe nicht unvoreingenommen bin. Das kann ich gar nicht, zu sehr war meine eigene politische Laufbahn als sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter mit einem Brandenburgischen Wahlkreis von der Auseinandersetzung mit Manfred Stolpe überschattet.

 

Ich habe daher den Stoff aufgeteilt. Zuerst kommen all jene Aspekte zur Sprache, die das Buch als solches betreffen, und die nicht von Stolpe handeln. Dann allerdings widme ich mich ihm ausführlich, weil ich hiermit versuchen möchte, das was das Buch nicht macht, nämlich in eine Erörterung der Konfliktlage und der Bedeutung von Stolpes Stasi-Kontakten einzuführen, wobei ich betone, hier meine Auffassung und meine Erfahrung wiederzugeben. Aber es ist allemal besser, in ein Thema einzuführen, und sei es subjektiv, als gar nicht.

 

Zum Buch:

 

  • Es handelt sich hier nicht um eine Beschreibung der Geschichte der Brandenburgischen SPD. Das war vielleicht klug, und öffnete den Herausgebern Spielraum, den sie allerdings nur zum Teil genutzt haben. Denn durch die Konzentration auf eine Beschreibung von Biographien einzelner herausgehobener Akteure, die zudem noch von unterschiedlichsten, keineswegs alleine dem sozialdemokratischen Lager zuzurechnenden Autoren geschrieben wurden, fällt manch ein wichtiges Thema unter den Tisch, dass es wert gewesen wäre, tiefer erörtert zu werden.
  • Einmal kommt der Mitherausgeber Martin Gorholt in der Einleitung auf den sozialdemokratischen Anteil am Untergang der Weimarer Republik zu sprechen. So wird nur kurz die innerparteiliche Debatten der SPD 1930, an deren Ende die Weigerung stand, eine Koalition mit den bürgerlichen Parteien einzugehen, erwähnt. Diese Haltung hat wahrscheinlich nicht unwesentlich Hitlers Weg zum Reichskanzler erleichtert. Und es ist dokumentiert, dass für Herbert Wehner die Vermeidung eines ähnlichen Fehlers das Hauptargument bei der Bildung der Großen Koalition in der alten Bundesrepublik 1966-1969 gewesen ist. Darüber hätte man als Leser gerne mehr gewusst. In der SPD wird sonst immer nur über die nahezu heldenhafte Haltung der Sozialdemokraten gegenüber den Hitler’schen Ermächtigungsgesetzen gesprochen. Eigene Fehler werden nicht thematisiert. Also diese Fehlstelle wird im Buch zwar immerhin benannt, aber leider nicht erörtert.
  • Ich finde es auch richtig, dass das Buch die Biografien jener nicht ausspart, die ursprünglich als Sozialdemokraten nach dem Krieg die Zwangsvereinigung von SPD und KPD mitmachten bzw. mitmachen mussten, dann aber anschließend Karriere in der SED bzw. in der SBZ und DDR machten. Leider wird die innere Haltung dieser ehemaligen Sozialdemokraten kaum beschrieben, die Konflikte, die sie zu bestehen hatten, die inneren Kämpfe vielleicht auch, die psychischen Wandlungen. Prominentestes Beispiel ist Friedrich Ebert Junior, der Sohn des ersten demokratischen Reichskanzlers, der bis in die 60er Jahre hinein dann Oberbürgermeister von Ost-Berlin gewesen ist, und der es sogar bis ins Politbüro der SED hineingeschafft hatte. In seiner Biografie wird davon gesprochen, dass er Kommunist geworden sei. Ob das stimmt? Es gibt darüber keine Zeugnisse. Eine Weltanschauung wechselt man nicht so schnell, wenn überhaupt. Mir will der Begriff „Vereinnahmung“ nach dem Buch-Untertitel nicht wirklich einleuchten. Wahrscheinlich handelt es sich eher um eine gewisse Anpassungsbereitschaft, gepaart mit Resignation, aber gerade bei Ebert geht es wohl auch um Kollaboration, Zusammenarbeit, Mitarbeit, Anpassung.
  • Schillernd ist auch die politische Biografie von Carl Steinhoff. Der war immerhin nach dem Kriege der erste Ministerpräsident Brandenburgs. 1923 wurde er Sozialdemokrat und machte dann in der preußischen Verwaltung Karriere. Hellsichtig sprach er sich zur Rettung der Weimarer Republik für eine breite Koalition der Mitte unter Einschluss der Bürgerlichen Parteien aus. Nach dem Krieg wurde er dann zu einem entschiedenen Befürworter einer Vereinigung von SPD und KPD. Und er wurde der erste Mann im neu geschaffenen Land Brandenburg, erst als Präsident, eingesetzt von der SMAD, dann als Ministerpräsident. 1949 wurde er nach der Gründung der DDR ihr erster Innenminister, in der Hochphase des von der SED praktizierten Stalinismus. Und als Innenminister war er Chef aller bewaffneten Organe der DDR einschließlich ihrer Geheimpolizei, die später ein eigenes Ministerium bekam, dem MfS. Ob da noch sozialdemokratische Züge in seinem politischen Handeln erkennbar waren, mag bezweifelt werden. Gleichwohl, er war der erste MP Brandenburgs, und es ist eigentlich nicht nachvollziehbar, dass die Staatskanzlei des heutigen Brandenburgs, es bisher nicht geschafft hat, sein Konterfei in die Ahnengalerie der Vorgänger von Woidke mit aufzunehmen. Denn Ministerpräsident ist Ministerpräsident, ob er einem gefällt oder nicht. Es ist schon merkwürdig, wenn die Staatskanzlei ihre Geschichte mit dem Retuschepinsel zeichnet.
  • Die Herausgeber sind äußerst tolerant zu den Autoren ihres biographischen Sammelbandes gewesen. Das spricht für sie, erlaubte aber auch zu Entgleisungen. Denn zumindest beim Beitrag über Anni Rehdorf, die als 21-jährige 1928 der SPD beitrat, zu der sie über Jugend- und Kinderarbeit gekommen war, stutzt man als Leser. Denn auch sie bleibt in der zwangsvereinigten SED, und wird in den 50er Jahren Kaderleiterin bei der HO. Ein distanziertes Verhältnis zur DDR beschreiben die Autoren nirgendwo. Stattdessen überschreiben sie die Zeit der friedlichen Revolution und der Deutschen Einheit als „Ende der Hoffnungen“, und beklagen den Rückfall in eine kapitalistische BRD. Mindestens hier hätte mich der Hintergrund der Autoren interessiert. Doch außer Danksagungen findet man im Buch nichts zu ihnen.
  • Kann man über derlei „Entgleisungen“ noch lächeln, so ist die Behandlung der politischen Biografie von Gustav Just ein Skandal. Er war der erste Alterspräsident des neu gewählten Landtages von Brandenburg am 14. Oktober 1990, und er muss in der Landtagsfraktion der SPD einen großen Einfluss gehabt haben. Aber er war auch eine tragische Figur. In der DDR machte er in der SED Karriere als Kulturwissenschaftler, wurde dann aber infolge seiner Beziehungen zu Harich und Janka in einem Schauprozess gemeinsam mit ihnen verurteilt, kommt nach Hohenschönhausen und sitzt eine lange Haftstrafe in Bautzen ab. Dort schwor er dem Staatssozialismus ab, und wurde, laut eigenen Selbstzeugnissen zum Sozialdemokraten. Folgerichtig engagiert er sich bei deren Neu-Gründung in Bernau 1989/90 und kommt in neu gewählten Landtag 1990. Auf dem Höhepunkt der öffentlichen Debatte um Stolpes Stasi-Kontakte wird dann bekannt, dass er als Offizier der Wehrmacht an Judenerschießungen in der Ukraine beteiligt war. Just zieht die Konsequenzen und tritt zurück. In seiner Erklärung bezog er sich dabei ausdrücklich auf die öffentliche Debatte um Stolpe und die SPD, die er mit seinem Rücktritt schützen wollte. Der Biograph nimmt Just in Schutz mit der Behauptung diese Vorwürfe der Judenerschießung seien nie wirklich geklärt worden. Justs Tagebuch ist dagegen eindeutig. Just selbst räumt ein, an Judenerschießungen beteiligt gewesen zu sein. Und kein anderer als Walter Janka hatte 1992 die Öffentlichkeit darauf hingewiesen. Das wiederum nahm Just ihm übel. Fakt ist allerdings auch, dass die Staatsanwaltschaft die Klage gegen ihn nicht angenommen hat. Das Gericht folgte der damals noch gängigen Linie der bundesdeutschen Justiz, wonach man die kleinen Täter, und als solcher wurde Just eingestuft lieber laufen ließ. Das wäre inzwischen anders. Wie dem auch sei, Tagebuch ist Tagebuch. Und jemanden, der im 2. Weltkrieg an der Ostfront an Judenerschießungen beteiligt war, kann nicht Mitglied einer sozialdemokratischen Landtagsfraktion sein.
  • Der Beitrag über Regine Hildebrandt hebt sich wohltuend von den anderen Beiträgen ab. Er ist konkret, sachlich, präzise in der Beschreibung und spart auch kritische Momente nicht aus. Allerdings werden die juristischen Verfahren gegen sie und einige ihrer Mitarbeiter im Ministerium, die wegen Untreue im Amt angestrengt wurden, allzu schnell als politisch motiviert abgetan. Das ist der Staatsanwaltschaft gegenüber nicht nur unfair, sondern es blendet auch einen Zug von Regine Hildebrandt völlig aus. Denn die hielt unseren Sozialstaat für unzulänglich, zwar besser als die DDR, aber nicht gut genug. Und so drängte sie ihre Kabinettskollegen, incl. der Finanzministerin Wilma Simon dazu, soziale Leistungen zu generieren, die der Landeshaushalt nicht stemmen konnte. Dazu gehörte die Einführung eines Begrüßungsgeldes für jedes neugeborene Brandenburger Kind in Höhe von 1000,- DM, eine soziale Leistung, die ein wenig an die Geburtenprämie aus DDR-Zeiten erinnerte, und die Brandenburg ein Jahr durchgehalten hat, bis es sie wieder einstellen musste, weil das Geld nun tatsächlich nicht da war. Gleichwohl, Regine Hildebrandt war eine große Persönlichkeit, und ihr überschießendes Engagement in Sachen Sozialpolitik kann man ihr durchgehen lassen, das mangelnde Gespür für das Machbare allerdings nicht. Auch sie hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass die Erwartungshaltungen der Ostdeutschen gegenüber der Deutschen Einheit übersteigert waren.
  • Was mir sehr negativ an dem Buch „Sozialdemokratie in Brandenburg“ aufstößt ist das Fehlen von Biografien, die unbedingt hätten gewürdigt werden müssen. So ist überhaupt nicht nachvollziehbar, dass Steffen Reiche, immerhin der erste Landesvorsitzende der Brandenburger SPD, und derjenige, der den Landesverband der SPD überhaupt erst aufgebaut hat, nur unter ferner liefen rubriziert. Man kann ja von ihm halten, was man will, er hat den Landesverband geprägt und repräsentiert. Nur weil Reiche von Platzeck geschasst wurde, macht ihn das ja noch nicht zu einer unbedeutenden politischen Figur.
  • Schlimmer noch aber ist das Fehlen eines ganzen Abschnittes und mit ihm des Namens von Martin Gutzeit. Letzterer war der eigentliche Ideengeber und Organisator der Gründung der sozialdemokratischen Partei in der DDR, die bekanntlich mit Schwante in einem kleinen Brandenburger Dorf, unweit von Berlin, gegründet wurde. Und Gutzeit war ein Brandenburger, geboren in Groß Lieskow, nicht weit von Cottbus entfernt. Hier ist er aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat seine Lehrausbildung absolviert, er war Facharbeiter für Elektrotechnik in der Brandenburger Braunkohleregion. Erst danach verließ er den Bezirk Cottbus für seine weitere, im Wesentlichen theologische und philosophische Ausbildung, sowohl im damaligen Bezirk Dresden, sowie hauptsächlich in Berlin, wo er am Sprachenkonvikt studierte und hier seinen kongenialen Freund und Partner Markus Meckel kennenlernte, bevor er zwischenzeitlich seine erste Pfarrstelle in Schwarz, Mecklenburg antrat. 1987 kehrte er nach Brandenburg zurück, nach Marwitz, Kreis Oranienburg, wo seine Frau eine Pfarrstelle übernahm, und er selbst Assistent von Richard Schröder im Ostberliner Sprachenkonvikt wurde. Von hier aus entfaltete er seine Aktivitäten zur Gründung der SDP, die dann am 7. Oktober 1989 bei Joachim Kähler, einem Kollegen und Freund von Gutzeit, in Schwante vollzogen wurde. Erst diese Gründung hat eine sozialdemokratische Partei in der damaligen DDR möglich gemacht. Das ist im Grunde ein high-light in der sozialdemokratischen Geschichte Brandenburgs. Warum findet sie im vorliegenden Buch keine Erwähnung.
  • Stattdessen werden Elogen auf Richard Schröder gesungen, der zwar mit Sicherheit seine großen Verdienste um den Brandenburger Landesverband der SPD hat. Das allerdings ist kein Grund ihm eine Art Spiritus Rektor – Eigenschaft in Bezug auf die Gründung der SDP einzuräumen. Wer, wie Schröder auf den Versuch von Gutzeit ihn für die Mitarbeit bereits in der Gründungsphase der SDP zu gewinnen, mit den Worten: „Es müssen sich ja noch ein paar in der Reserve halten!“ antwortete, der glaubte nicht an den Erfolg der SDP; ihm fehlte für die eigentlich notwendigen Aktivitäten die Courage. Das ist alles ist menschlich nachvollziehbar. Ein Grund für das Hervorheben seiner Verdienste um die eigentliche Gründung der SDP ist es nicht. 
  • Der Artikel über Manfred Stolpe ist Hofberichterstattung. Er greift nur auf Selbstzeugnisse von Stolpe zurück, erörtert die Konfliktlagen nicht, kümmert sich nicht um die Faktenlage und geht mit keinem Wort auf seine bereits zu DDR-Zeiten umstrittenen Anpassungspositionen zum SED-Staat ein, der er sein Verhältnis zu den eigenen Amtsbrüdern wie auch der DDR-Opposition untergeordnet hat. Während in allen anderen Beiträgen immer auch die Positionen von Weggefährten angedeutet werden, kommt im Beitrag zu Stolpe nur er selbst zu Wort, mit einer Ausnahme, aber auf die komme ich noch. Die wichtigsten Konfliktlagen, die Stolpes Amtszeit als Ministerpräsident begleiteten, betreffen zuerst seine Stasi-Kontakte, die Diskussion um seine Rolle als Kirchenvertreter in der DDR, die Debatte um den Flughafen-Standort Schönefeld versus Sperenberg, und die gescheiterte Fusion von Berlin-Brandenburg, die dem Autor immerhin eine Erwähnung wert ist. Dass Stolpe von der SDP-Spitze als DDR-Ministerpräsidents-Kandidat bereits im Dezember 89 verhindert wurde, weiß der Autor vermutlich gar nicht. Aber da hätte er recherchieren können. Und dass Stolpe nur deshalb nicht Stellvertretender Ministerpräsident unter Modrow in der Untergangsphase des SED-Regimes wurde, weil Forck ihm angedroht hatte, dann seiner Pensionsansprüche verlustig zu gehen, unterschlägt der Autor, aber dieser Fakt war in der DDR-Opposition weithin bekannt. Und dass Stolpe zum Schluss sogar Kohl 1990 angetragen hatte, ein Bündnis mit der Ost-CDU zu schließen, womit der Wahlausgang 1990 faktisch feststand, das hätte der Autor auch wissen können, aber dazu wollte er offenbar nichts schreiben. Von diesen vermeintlich kleinen Details gibt es viele. Die aufgezählten sind lediglich Beispiele dafür. 

Die Rolle Stolpes in Bezug auf seine Haltung zur DDR und zur SED-Diktatur wurde schon lange strittig diskutiert, bevor überhaupt das Ende der DDR in sichtbare Nähe geriet. Stolpe trug erheblich dazu bei, dass die Kirche sich als Institution und ihren kirchenleitenden Repräsentanten in Bezug auf die DDR versuchte neu zu ordnen - weg von der harten Konfrontationslinie der 50er Jahre, in der das SED-Unrecht gegenüber der Gesellschaft und ihren Bürgern klar benannt und kritisiert wurde, hin zu einer Art Arrangement mit der SED-Diktatur und ihrem Staat, der DDR, der man das Existenzrecht nicht mehr absprach, und wo sich die evangelische Kirche mehr auf die politischen Verhältnisse einzustellen versuchte, als sie permanent in Frage zu stellen. Das problematische dieser Haltung bestand quasi in einer Hinnahme des von der DDR gegenüber ihren Bürgern praktizierten Unrechts, wodurch die Kirche in eine Art Komplizenschaft geriet, der sie nicht wenigen DDR-Bürgern verdächtig machte. Diesen Weg ging in der Kirche nicht jeder mit, und die sich innerhalb der Kirche nach dem Mauerbau 1961 neuformierende DDR-Opposition schon gar nicht. Diese hatte einen ganz anderen Ansatz. Sie stellte die Legitimität des SED-Regimes grundsätzlich in Frage und ließ sich von der SED die eigene, auch persönliche Verantwortung für Land und Leute nicht absprechen. Sie entwickelte von daher eigene, neue Protestformen gegen den DDR-Sozialismus, mit denen sie interessanterweise nun nicht nur in (einen gewollten) Konflikt mit der SED geriet, sondern interessanterweise auch mit ihrer Kirchenobrigkeit, die sich den fragilen Burgfrieden mit der SED-Spitze nicht durch die in ihren Augen provokanten und nicht selten auch spontihaften Aktionen der sich in den berühmten kleinen Gruppen organisierenden DDR-Opposition in Frage stellen lassen wollte. Gleichwohl gelang dieser Opposition neben ihrer zunehmend politischen Profilierung auch etwas, von der die übrige Kirche nur träumen konnte. Die Kirche wurde wieder, zwar anfangs erst langsam, auch für kirchenferne Schichten attraktiv. Und das war insofern kein Zufall, weil die DDR-Opposition eben selbst Kirche war, zwar nicht repräsentiert durch die Kirchenobrigkeit, aber als gläubige Christen bis hin zu vielen kirchlichen Mitarbeitern eben doch Teil von ihr. Sie brauchte gar nicht erst unter das Dach der Kirche zu schlüpfen, sie war da schon lange vorher. Sie war ein eigenes christliches und letztlich auch kirchliches Gewächs.  Und in dieser wurde die Rolle von Stolpe zunehmend kritisch diskutiert. Denn Stolpe rückte die Kirche immer stärker in die Nähe der SED-Diktatur mit der er gemeinsame Werte und Traditionen beschwor; er versuchte den Kirche-Staat-Konflikt zu deeskalieren, in dem er bspw. seinen eigenen Bischof Forck 1988 antrug, der Einweihung des sanierten Greifswalder Doms fernzubleiben, um Honecker nicht zu verärgern, und er half dem inzwischen mit dem Rücken an der Wand stehenden SED-Regime bei der Lösung des Konflikts um die Inhaftierten der Rosa-Luxemburg-Demonstration 1988, der damals schon zu einem Auslöser der erst im Herbst 1989 ausbrechenden friedlichen Revolution hätte werden können. Auch dies sind nur Beispiele. Stolpe war also keineswegs der unumstrittene, liebevolle, helfende Kirchenvertreter, an den sich in Not geratene Bürger und Kirchenmitglieder vertrauensvoll wenden konnten, und die nicht selten berichteten, wie ihnen Stolpe tatsächlich geholfen habe. Seine politische Funktion bestand in der Aufrechterhaltung einer kirchlichen Position, die den Machtanspruch der SED-Herrschaft nicht in Frage gestellt sehen wollte, sondern akzeptieren, und sich damit arrangieren. Damit hätte er besser in die damalige Blockpartei CDU gepasst als in die sich neu gründende SDP, deren erklärtes Ziel die Entmachtung der SED war.

 

Ich war dabei, als Martin Gutzeit Anfang Dezember 1989 Thomas Krüger und Anne Katrin Pauk als Vertreter des Berliner SDP-Vorstands eine solche Abfuhr erteilte, wie ich das vorher von ihm noch nicht erlebt hatte. Beide wollten im Republik-Vorstand der SDP für eine Spitzenkandidatur von Stolpe für die SDP bei den inzwischen in greifbare Nähe gerückten ersten freien Wahlen der DDR werben. Beide verließen den Raum wieder, bevor der Vorstand überhaupt zusammengekommen war. Ich selbst hatte in meiner Funktion als 1. Sprecher der SDP der evangelischen Kirchenleitung einen Brief geschrieben, in welchem ich ihr das Recht absprach, ohne Legitimation durch das Volk, politische Positionen mit der SED zu verhandeln, gar in unserem Namen zu sprechen, weder in Bezug auf die SDP noch die Opposition als ganzer. Und jetzt sollte der Oberrepräsentant dieser Haltung, Stolpe ausgerechnet unser Spitzenkandidat werden, ein Mann, der kurz vorher noch Eppelmann davon abgehalten hatte, selbst in Sachen SPD-Gründung aktiv zu werden? Wie konnten wir, die neu gegründete SDP, deren wichtigstes Ziel die Beseitigung der SED-Diktatur war, einen Mann an die Spitze heben, dessen ganzes politisches Bemühen darin bestanden hatte, die Kirche und die Christen mit der SED-Herrschaft zu versöhnen, weil sie unabänderlich sei? Und das war sie ja seit 1985 nicht mehr. Das sah ja nun auch jeder. Stolpe allerdings erst ganz spät, zu spät. Es war ihm nicht gelungen, seine politische Position an die neue Lage anzupassen. Daher geriet er in der friedlichen Revolution in die politische Versenkung, aus der ihn Steffen Reiche im August 1990 wieder herausholte, indem er ihn dann allerdings eine Spitzenkandidatur, aber nun für den neu zu wählenden Ministerpräsidenten Brandenburgs antrug. In meinen Augen war das eine Rolle rückwärts.

 

Ich hatte Steffen Reiche davon abgeraten. Aber er meinte, die Messen seien schon gesungen, seine eigene Vermittler-Rolle bei dieser Spitzenkandidatur verschweigend. Später hat er sie dann in seinen Selbstzeugnissen immer wieder beschrieben. Er ist sogar stolz darauf. Das darf er von mir aus. Ein Fehler war das trotzdem. Wie groß dieser Fehler war, zeigte sich erst bei den Debatten um Stolpes Stasi-Kontakte.

 

Der Bundestag brachte im Herbst 1991 das Stasi-Unterlagen-Gesetz auf den Weg, mit dem das Akteneinsichtsrecht in die persönlichen Stasi-Akten realisiert wurde. Stolpe musste damit rechnen, dass viele Leser in ihren Stasi-Akten auch auf seinen Namen stoßen würden, und was sie da zu lesen bekommen würden, das würde ihm keineswegs zur Ehre angerechnet werden. Wohl deshalb kam Stolpe den Debatten zuvor, indem er kurz vorher mit einer Buchveröffentlichung von sich aus seine Stasikontakte selbst einräumte und bei der Gelegenheit sein eigenes Narrativ gleich mit. Alles sei zum Segen und Besten der Kirche und zur Lösung der ihm anvertrauten Anliegen von Bürgern der DDR, die sich SED-Repressalien ausgesetzt gesehen hatten, geschehen. Doch das reichte ihm noch nicht, er erklärte in dem Zusammenhang auch, dass die Kirche der Garant der DDR-Opposition gewesen sei, und dass er, Stolpe seine Stasi-Kontakte auch dazu genutzt habe, den wehrhaften kirchlichen Schirm über die Opposition zu halten, ihre Vertreter persönlich geschützt habe vor staatlicher Verfolgung oder sie gar wieder aus dem Gefängnis geholt habe. So gesehen, sollte ihm die DDR-Opposition eigentlich dankbar sein, meinte Stolpe, denn ohne diese Kirche, wie er sie auch gegen das MfS vertreten habe, hätte die DDR-Opposition gar nicht wirken können. Das konnte kein Vertreter der ehemaligen DDR-Opposition auf sich sitzen lassen. Denn dieses Narrativ war erstens eine Lüge auf dem Rücken der DDR-Opposition, es widersprach ihrer politischen Erfahrung, und es sprach der Opposition jeglichen Einfluss beim Zustandekommen der friedlichen Revolution und der Entmachtung der SED ab. Letztlich war dies alles der Kirche, und ihm Stolpe zu verdanken, ohne den die Opposition in den Kerkern der SED-Diktatur verschwunden wäre. Die Opposition geriet bei ihm in den Ruf, willkommenes Instrument seines segensreichen und letztlich politischen Handelns gewesen zu sein.

 

Nun muss man wissen, dass nichts in der DDR-Bevölkerung so verhasst war die staatliche Geheimpolizei der SED, die Stasi. Vor nichts war die Angst so groß und allgegenwärtig, wie vor diesem Schutzschild von Partei und Staat. Und nichts war so verpönt, wie eine Mitarbeit bei ihr. Mit der Debatte um Stolpes Stasi-Kontakte ging es also um die Rolle der Stasi als solcher, und die Rolle derjenigen, die hier mitgearbeitet hatten. Damit aber ging es um einen ganz wesentlichen Teil der Aufarbeitung der untergegangenen SED-Diktatur, und zwar sowohl in persönlicher Hinsicht bei den Mitarbeitern im Öffentlichen Dienst, als auch bei der Bewertung der ganzen Diktatur und ihrer Verbrechen, und es ging nicht zuletzt um die SPD, die ja in klarer Gegnerschaft zum totalitären Staat und seiner Diktatur gegründet wurde, und die sich von Anfang an der Aufarbeitung des SED-Unrechts verpflichtet wußte. Und es ging um den Widerspruch zu Stolpes Aussagen, dass die Opposition ihr Wirken seinen Stasi-Kontakten zu verdanken gehabt hätte, also letztlich die Selbstbehauptung all jener, die ihr politisches Wirken ihrem Engagement innerhalb der DDR-Opposition zu verdanken hatten. Stolpe hatte in seiner Not ein Narrativ erfunden, dass allen anderen politischen Akteuren außer der Kirche und ihm, jegliche Eigenständigkeit abgesprochen hatte. Er persönlich erhob den Anspruch der Vater allen Widerstehens gewesen zu sein.

 

Nebenbei relativierte er dabei gleich die Stasi mit, insbesondere die Bereitschaft eines jeden einzelnen IMs mit dieser Institution zusammengearbeitet zu haben. Sein Narrativ war geeignet, das gesamte gesellschaftliche Verhältnis zur Stasi und damit zur SED-Diktatur auf den Kopf zu stellen. Das MfS wurde von einem unberechenbaren, aggressiven Schwert gegen die einfachen Menschen zu einer von diesen beherrschbaren Institution, wenn man es denn schaffte, wie er, Stolpe, durch Cleverness und gesichert durch die Auftrag der Kirche, sich diese Institution zu Nutze zu machen und damit zu entschärfen.

 

Die Vertreter der ehemaligen DDR-Opposition setzten sich zur Wehr. Aber sie hatten der Professionalität von Stolpe nichts entgegenzusetzen. In den damaligen öffentlichen Diskussionen und Talkshows gingen sie sang- und klanglos unter. Sie schafften es nicht, das väterliche Fürsorge-Narrativ von Stolpe zu entkräften. Vielmehr entstand der Eindruck einer gewissen Hilflosigkeit der ehemaligen Opposition. Das half Stolpe natürlich.

 

Was ihm auch half, waren plumpe Attacken von einigen konservativen Medienvertretern, die ihm zum Rücktritt aufforderten, die aber gar nicht verstanden hatten, welche Wirkung sein Narrativ der Stasi-Kontakte zum Segen von Kirche und Mitbürgern entfaltete. Zumal diese Medienvertreter nicht selten aus der alten Bundesrepublik kamen und von daher den Ossi-Wessi-Konflikt, der die öffentliche Debatte beherrschte, noch bedienten. Nun schlossen sich die Ossis um „ihren“ Mann Stolpe zusammen. Er wurde ihnen zu einem Beispiel des aufrechten Ostdeutschen, der von den Westdeutschen plattgemacht werden sollte, weil er anders war als sie.

 

Was ihm auch half, war die Hilflosigkeit einer ganzen Reihe von Kirchenvertretern, die im Angriff auf Stolpe einen Angriff auf die gesamte evangelische Kirche in der DDR, und letztlich in Deutschland sahen. Der bruderschaftliche Geist, der in ihr beschworen wurde, schloss ihre Reihen zusammen. Was aber einige von ihnen dachten, fasste der damalige Bischof und letzte Ratsvorsitzende des Kirchenbundes in der DDR, Gottfried Forck in Worte, als er vom Erschrecken über das Ausmaß der Stasi-Kontakte von Stolpe in seiner Auslegung des kirchlichen Auftrages sprach.

Was Stolpe nicht zuletzt half, waren die handfesten Solidaritätsbekundungen der SPD, die ihren Mann im Osten, dem einzigen, der es geschafft hatte in Ostdeutschland eine Landtagswahl zu gewinnen. All das machte jede Form kritischer Anmerkungen zu Manfred Stolpe in der SDP schwierig, weil der Preis dafür eine kollektive sozialdemokratische Ausgrenzung zumindest in der Brandenburger SPD war.

 

Trotzdem erklärte ich, um hier mal auf meine Person zu sprechen zu kommen, der ja im Text über Stolpe zumindest erwähnt wird, in allen Gremien der SPD, dass weder die MfS-Tätigkeit noch das Narrativ von Stolpe hinnehmbar sei: im Landesvorstand, in der Landtagsfraktion und auf dem Senftenberger Landesparteitag. Auf letzterem begründete ich das mit unserer Rolle als antitotalitärer Partei, die im Kampf gegen die SED-Diktatur gegründet und siegreich gewirkt hat, und die an der Seite der Opfer der SED-Diktatur stehen müsse. Und deshalb müsse sie Stolpe auffordern, sein Amt ruhen zu lassen. Dafür wurde ich ausgebuht im Herbst 1992. Aber in meinem eigenen Landesverband gab es doch auch Stimmen, die ihr Erschrecken zeigten über die Art und Weise wie dieser mit Kritik an Stolpe umging. Was war aus der Partei geworden, die einst für Demokratie und freie Meinungsäußerung gegründet worden war?

 

Die erste, die bezahlte für Stolpes Verteidigungskampagne, war die SPD selbst. Ihre Glaubwürdigkeit in Sachen Aufarbeitung der SED-Diktatur hatte Schaden genommen. Das nächste waren die Stasi-Überprüfungen im Lande, die ja als Teil der Aufarbeitung ihren Anteil beitragen sollten, jene, die sich in der DDR allzu sehr mit dem System eingelassen hatten, nicht mehr als Inhaber öffentlicher Ämter tragbar waren, zu entlassen. Flächendeckend wurden diese Stasi-Überprüfungen eingestellt, sogar in der Polizei und Justiz, von Hochschulen und Schulen ganz zu schweigen. Es freute sich die ehemalige SED, jetzt PDS, weil die Debatte von ihrer Verantwortung ablenkte, und es freute sich die ehemalige Blockpartei CDU, weil nun niemand mehr von ihrer Komplizenschaft mit der SED redete. Auf dem Altar der Anpassung an die SED-Diktatur, hatte die SDP/SPD selbst ihren antitotalitären Gründungsimpuls vom Oktober 1989 geopfert. Mit dieser Debatte um die Stasi-Kontakte von Manfred Stolpe war die Brandenburger SPD nicht mehr wiederzuerkennen. Sie hatte ihre einstige Lebendigkeit, ihre Debattenkultur verloren, sie wurde zu einem Unterstützerverein von Stolpe, den sie zu einem lebendigen Denkmal machte.

 

Die Brandenburger Ampelkoalition zerbrach über die Frage der Stasi-Kontakte von Stolpe. Marianne Birthler trat zurück, Platzeck schloss sich der SPD an, das Bürgerbündnis, dem sie angehört hatten, zerbrach und hörte auf zu existieren. 

 

Und die ehemaligen Vertreter von Stasi und alter DDR rieben sich die Hände. Besser als mittels ihres ehemaligen IMB, Manfred Stolpe, alias „Sekretär“ hätten sie gar keine Verharmlosungslegenden über das Wirken des MfS erfinden können.

 

Dass ich selbst meine Kritik an diesem Verhalten von Stolpe 1992 politisch überlebt habe, verdankte ich meinem Wirken in der SPD-Bundestagsfraktion, die nicht bereit war, ihr Verhältnis zu mir, meinem Verhältnis zu Manfred Stolpe unterzuordnen. Im Gegenteil, ich machte hier Karriere, wurde Bildungssprecher, in den Fraktionsvorstand gewählt und später Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium in der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder, und damit, aber das nur nebenbei, weil das ja auch unterschlagen wird, erstes Mitglied der SPD-Brandenburgs in der Bundesregierung. Aber die Debatte um Stolpe verfolgte mich. Und da ich mich neben meiner bildungspolitischen Tätigkeit generell mit Aufarbeitungsthemen beschäftigte, blieb es nicht aus, dass ich auch immer wieder meine Kritik an der Handhabung der Stolpeschen Stasi-Kontakte erneuerte.

 

Als Stolpe dann zum Bundesminister meines eigenen Ministeriums berufen wurde, spitzte sich für mich die Situation zu. Es ging darum, Glaubwürdigkeit und Perspektive in Einklang zu bringen. Mit dem Satz: „Mit Stolpe hat die Firma am Kabinettstisch Platz genommen.“ verabschiedete ich mich letztlich von meiner politischen Karriere. Einzig dieser Satz ist es, der die Herausgeber des Buches über die Brandenburgische Geschichte der SPD bis 89/90 hatte sagen lassen, hier seien auch die Kritiker von Stolpe zu Worte gekommen. 

 

Stolpe hat viel gelogen in seiner politischen Karriere, und er ist lange damit durchgekommen. Er hat die Demokratie nicht angestrebt, er hat sie benutzt. Er ist der intelligente Vertreter einer Schicht, die in der Lage ist, sich an alle politischen Verhältnisse anzupassen, und sich zu Nutze zu machen. Es interessierte ihn nicht, was er früher gesagt hat, oder nicht, wenn es denn seinem Fortkommen nutzte. Bei ihm kann man studieren, was Professionalität auch bedeutet. Was Integrität bedeutet, braucht allerdings andere Lehrmeister. 

  • Kurz und gut, nochmal zum Buch. Dass es überhaupt jemanden gab, der sich der Geschichte der Brandenburgischen SPD angenommen hat, ist grundsätzlich begrüßenswert. Viele der Artikel erhalten wichtige Informationen, und einige Akteure werden kenntlich und erhalten ein Gesicht. Aber gemessen an der Herausforderung eines solchen Buches, die eigene Geschichte auch kritisch, d.h. selbstkritisch zu betrachten, denn erst das macht Aufarbeitung wertvoll, sind seine Fehlstellen unverzeihlich, und die in ihm enthaltene Art von Hofberichterstattung entwertet es.