Großes erzählerisches Talent – Zeitzeugin des Holocaust erlebt zwei grausame Zeiten
Nechama Drober
Ich heiße jetzt Nechama - Mein Leben zwischen Königsberg und Israel
Mit einem Geleitwort von Norbert Lammert
Herausgegeben von Uwe Neumärker
Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Deutschlands
2.Auflage 2012
ISBN 978 3 942240 06 2
Zuerst einmal fällt einem das große erzählerische Talent von Nechama Drober auf. Reich an Details erzählt sie aus dem Riesenfundus ihres unerschöpflichen Gedächtnisses. Sie kennt Namen, Straßen, Freunde, Kollegen, Orte, Ereignisse so als wäre es gestern gewesen. Alles Erzählte wirkt frisch, wie gerade erlebt. Das macht ihr Buch so kenntnis- wie lehrreich – und konkret. Hier wird selten nur reflektiert. Hier wird einfach erzählt, was passiert ist. Der Leser wird zum Zeugen eines großen Berichts, der wie alle guten Berichte selten mit eigenen Befindlichkeiten geschmückt ist, sie werden dennoch transportiert durch ihre Sprache, die so dicht ist, dass Lammert sich an das Wort von Wilhelm von Humboldt erinnert fühlt: „Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache“.
Das macht die Lektüre nicht unbedingt einfach. Gerade im ersten Teil des Buches braucht der Leser eine ganz erhebliche Portion an Konzentration um der Erzählerin zu folgen, die allerdings, ziemlich stringent den Ereignissen ihres Lebens folgt. Doch ein Leben gleicht eher einem Netzwerk des Erlebten als einer Perlenkette von Ereignissen.
Nechama Drober, von ihren Eltern hat sie den Name Hella erhalten, wird in Königsberg geboren. Weil ihr Vater jüdischer Abstammaung ist; wird die Ehe der Eltern von den Nazis abqualifizierend als Mischehe diskriminiert. Tatsächlich wächst Hella in einer klassischen deutschen Familie auf und Hella ist eine Deutsche, gar keine Frage. Und erst mit der Machtergreifung Hitlers zieht der Antisemitismus in ihr Leben ein. Wir werden zum Zeugen, wie er das Leben eines kleinen Mädchens, später einer heranwachsenden Jugendlichen immer stärker beeinträchtigt, deformiert, ja zu zerstören versucht. Nechamas Vitalität aber scheint er nicht wirklich erreichen zu können. Sie bleibt wie sie ist – im heutigen Sinne eine Chronistin.
Sie erzählt von ihrer Familie, ihren Kindheitsfreundinnen, von ihrer Schule, von der Arbeit ihres Vaters, der bald nichts mehr verdienen kann. Sie erzählt von Beschützern wie von harten Erlebnissen. Sie erzählt von den Bombenangriffen und der harten Zwangsarbeit. Sie schildert den Gelben Stern, die Reichskristallnacht, die brennende Synagoge, ihre jüdische Schulen. Sie schildert ihre jugendlichen Abenteuer. Und sie schildert die Abtransporte, nennt die Namen von Menschen, die sie nie mehr wiedergesehen hat, weil sie in Theresienstadt oder direkt in den Vernichtungslagern umgekommen sind.
Das Ende des Krieges ist nicht das Ende ihrer Not. Die Familie beschließt in den letzten Kriegstagen der Roten Armee entgegenzugehen, in der Hoffnung dem immer stärker werdenden antisemitischen Verfolgungsdruck der Nazis entkommen zu kommen. Doch die Rote Armee verhaftet den Vater. Er wird als Kriegsgefangener nach Sibirien geschickt. Hella wird ihn nie wiedersehen. Die Mutter und der kleine Bruder verhungern. Niemand hilft ihnen. Kaum einer im nunmehr sowjetischen Besatzungsgebiet glaubt ihnen, dass sie in Deutschland überlebende Juden sind. Das traut man Hitler nicht zu. Nur vereinzelt erlebt sie menschliche Gesten. So kommt es, dass von ihrer Familie nur sie selbst und ihre Schwester Rita übrig bleiben. Sie bleiben ihr Leben lang zusammen. Gehen nach Litauen. Dort lernst sie ihren späteren Mann kennen – einen Juden aus Kischniew, Moldawien, wo es sie in den 50-ger Jahren hin verschlägt. Sie bekommt zwei Söhne. Und sie ist nun Sowjetbürgerin. Das führt nebenbei dazu, dass sie ihren Vater, der aus Sibirien nach Westdeutschland (Hamburg) entlassen wurde, nicht wiedersehen kann, weil sie kein Visum erhält. Auch zur Beerdigung darf sie nicht. )
Hella (Nachama) fühlt sie sich die ganze Zeit als Deutsche. Und das ist sie auch. Sie spricht auch faktisch nur Deutsch. Eigentlich würde sie, trotz der ganzen Erlebnisse am liebsten in Deutschland leben.
In den 80-ger Jahren versucht die Familie nach Israel auszuwandern, in der Hoffnung es dort besser zu haben. Doch die Bürokratie verhindert das. Als durch die friedliche Revolution in der damaligen DDR Ausreisen nach Deutschland möglich werden, hat sie wieder Pech. Sie kommt um weniges zu spät. Sie die deutsch ist, deutsch fühlt, nach Deutschland will, wird von Deutschland nicht mehr aufgenommen. Sie muss jetzt nach Israel auswandern, in ein ihr fremdes Land, das so gar nichts vom Gelobten Land vieler anderer Juden für sie hat.
Aber wieder gelingt ihr der Neuanfang.
Und nun kann sie wenigstens ihre Besuche in Deutschland intensivieren. Hier wird man auf den Schatz ihrer Erinnerungen aufmerksam, was dazu führt, dass Nechama ihre Erinnerungen aufschreibt.
Nebenbei in der zweiten Hälfte des Buches werden die Erzählstränge deutlicher. Wie das so ist mit dem Leben.
Ein wertvolles Buch. Ich habe es in einem Zuge gelesen. Man sollte sich drei Stunden Zeit nehmen für die Lektüre. Es wird einen nicht loslassen bis zum Ende.