Entdeckungen einer Berliner Straße

 

 

Martin Brucks

 

Baugeschichtliche Betrachtungen zur Tieckstrasse in Berlin-Mitte

 

Universität der Künste Berlin

 

Viertes Beiheft zu „Das Berliner Mietshaus“ von Johann Friedrich Geist und Klaus Kürvers

 

2018, Broschiert, DINA4, > 150 Seiten

 

 

 

 

Dieses Buch war angekündigt worden. Ich bin, genau wie der Autor, Martin Brucks, in der Tieckstrasse aufgewachsen, allerdings mindestens eine Generation älter als er. Aber wir sind uns gelegentlich über den Weg gelaufen. Das Brucks jetzt ein Buch über mein Heimatkiez herausgebracht hat, das Bau-. Vor-, Entwicklungs-, Industrie- und Sozialgeschichte zu einem generösen Ganzen zusammengetragen und beschrieben hat, das war ein echtes Geschenk für mich. Und wie so häufig, wenn man mit der Geschichte eines Objektes konfrontiert wird, das man eigentlich zu kennen glaubte, ist man überrascht, was man alles nicht wusste. Die Tieckstrasse ist eine besondere Straße, die etwas Eigenes in der an Geschichte nun nicht gerade armen Stadt Berlin verkörpert.

Das beginnt mit Feuerland. So wurde das Viertel nördlich vom Oranienburger Tor, worin sich die Tieckstrasse befindet, im 19. Jahrhundert genannt. Hier befand sich die größte Ansammlung von metallverarbeitenden Fabriken von ganz Berlin (schon 1856 waren es acht Betriebe mit insgesamt mehr als 2500 Arbeitern), hier rauchten die Schlote und Essen, und deshalb hat Berlin diesem Viertel diesen Namen „Feuerland“ gegeben. Eine Aufschrift, am Eckhaus Torstrasse/Chausseestrasse angebracht, erinnert heute noch daran.

 

Martin Brucks hat nicht nur die Betriebe benannt, samt ihren Liegenschaften, sondern gleich noch ein Stück Berliner und Preußische Industriegeschichte mitbeschrieben, und man spürt, dass das keine zufällige Entwicklung war. Erst war Anton Eggels Lehrling und dann Angestellter bei der Königlichen Eisengießerei, die sich damals Anfang des 19. Jahrhunderts auf dem heutigen Gelände des Naturkundemuseums befand. Danach wurde er für einige Jahre zur weiteren Ausbildung nach England geschickt; und dann hat er sich in der Chausseestrasse, das ist die Hauptstraße, von der die Tieckstrasse abgeht, mit einer eigenen Maschinenbaufabrik selbständig. Borsig wiederum lernte bei ihm, und auch gründete seine Firma anschließend unmittelbar daneben, wo in den nächsten Jahrzehnten die meisten Eisenbahnlokomotiven von ganz Europa hergestellt werden sollten. Vieles rankt sich um die Eisenbahn, und so ist es sicher kein Zufall, dass hier auch mit dem Stettiner Bahnhof, heute Nordbahnhof der gesamte Nordosten Preußens verkehrstechnisch angebunden wird. Doch mit dem damaligen Wachstum der Stadt Berlin vertrug es sich nicht, dass unmittelbar in seiner Mitte ein industrielles Feuerland dampfte und schlohte, und so werden die Betriebe weiter Norden umgesiedelt, und so Platz für dringend benötigten Wohnraum geschaffen. Das wiederum öffnete Raum für eine ganz neue Art von Tätigkeit.

 

„Die Geburtsstunde der Tieckstrasse war mit einem Akt der Grundstücksspekulation verbunden, der in dieser Form neuartige Qualität aufwies.“ schreibt Brucks, und meint damit das Verfahren, in welchem der aus einer Hugenotten-Familie stammende Immobilienspekulant Graf Pourtalés ein komplettes Gelände erwarb, es infrastrukturell entwickelte,  ein Straßennetz zog, parzellierte und gewinnbringend verkaufen konnte. Im Grunde hat er damit die Grundlage für das heutige Tieckstraßen-Kietz gelegt, er hat diesen Kiez entwickelt, würde man heute sagen.

 

Beim Bau der Mietshäuser in der Tieckstrasse und ihrer Finanzierung ist ein Muster erkennbar. Viele Häuser werden von Handwerkern gebaut, Poliere, Zimmerleute, Architekten, Baumeister. Die wissen natürlich, wie man ein Haus baut. Die kaufen sich die Immobilie, bebauen sie, und verkaufen das fertige Haus, oder hinterlassen es als Lebensversicherung für ihre Nachkommen, nicht selten ihre Witwe. Man spürt, da ist das Mietshaus die Altersvorsorge. Wenn das Haus weiterverkauft wird, erweitert sich in der Regel der Kreis der Besitzer damit. Jetzt tauchen da auch Adlige oder Akademiker auf, Ärzte, Juristen. 

 

Natürlich sind die vielen Mietshäuser, die in der Tieckstrasse errichtet werden, vielfach für Fabrikarbeiter und ihre Familien gedacht, aber nicht ausschließlich. Die Bewohnerschaft war hier sehr gemischt, und so müssen hier auch erhebliche soziale Gegensätze aufeinandergetroffen seien. Vom Fabrikbesitzer über den bürgerlichen Mittelstand bis hin zur Industriearbeiterschaft findet sich alles. Doch alleine schon der Umstand, dass hier auch viele Werkswohnungen gestanden haben, macht erkennbar, dass die Tieckstrasse auch ein Symbol für das Bemühen um das soziale Miteinander, das es auch in der damaligen Industrialisierungsphase auch schon gegeben hat, darstellt.

 

Und da in einer typischen Mietshausstraße, wie die Tieckstrasse sie darstellt, eben fast nur Mietshäuser stehen, findet sich in Brucks Buch auch ein kleiner Rekurs auf die Entwicklung eines dieser typischen Mietshäuser, wie sie charakteristisch für die Berliner Mitte, Prenzlauer Berg und den Wedding sind. Und so erfährt der Leser, dass es sich aus einem Kolonistenhaus entwickelt hat, das ursprünglich ebenerdig war, und dann, um mehrere Mietsparteien aufnehmen zu können, schlicht nur aufgestockt wurde. Das erklärt die langweiligen Fassadenreihen der Berliner Mietshäuser, die rein funktional gedacht und entwickelt wurden, und die vor allem einen Zweck hatten, nämlich Raum und Unterkunft für viele Menschen und Familien zu bieten, die kaum wohlhabend zu nennen waren und die von daher sehr auf den Pfenning geachtet haben.

 

Wer die Tieckstrasse noch aus den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kennt, weiß, welche Langeweile diese Straße ausströmen konnte, ohne jeden Baum; kleinere Parks und Spielplätze nur dort, wo   Häuserlücken noch von den  Volltreffern des Bombenkrieges zeugten, zeigte diese Straße doch auch eine gewisse städtischen Öde. Die Fassaden machten einen verwahrlosten Eindruck, vereinzelt war noch alter Fassaden-Stuck zu sehen. Aber der wurde zu DDR-Zeiten mehr entfernt, als erneuert. Das blieb auch in den 80er Jahren so, als die DDR begann, ihre überkommene Mietshaussubstanz in Berlin zu sanieren. Und in diesem Zusammenhang ist es interessant, zu erfahren, dass die Entstuckung der Mietshäuser ein Prozess war, der bereits in den 20er bzw. 30 Jahren begonnen hatte, also wohl als Bemühen um Entstaubung und Modernisierung der Mietshauskieze gedeutet werden kann. Ja, so kann Zeitgeschmack sich ändern. Das ist ja bekannt. Ich kann mich heute noch erinnern, wie ich selbst Stuck und verschnörkelte Fassaden als vermufft empfand, und die Neigung der 70er Jahre zu geraden Linien, hellen und klaren Räumen teilte. Die Tieckstrasse hat dadurch ihren Stuck verloren. Und diesen Verlust kann auch die bunte Farbigkeit der Fassaden, wie sie nach dem Mauerfall auch im Osten Einzug hielt, nicht wettmachen. Heute bin ich froh über jede alte Tür, jedes originale Fenster und jede originale Fassade, weil sie den Häusern ein Gesicht verleiht, weil auch sie Struktur ist, an der das Auge sich festhält, und die den Häusern Gestalt verleiht.

 

Brucks geht auf einige Häuser besonders ein. Das ist insbesondere die Tieckstraße 17, zu meiner Zeit das Gemeindehaus der Golgatha-Gemeinde, das Pfarrwohnungen und Diakonissenstationen enthielt. Gebaut aber wurde das Haus als Wohnhaus für die Familien der Fabrikbesitzer der umliegenden Metallverarbeitenden Betriebe. Es ist also im Grunde genommen eine Fabrikbesitzer – Villa, wenn vielleicht auch für mehrere Fabrikbesitzerfamilien. Als solche enthielt die Tieckstraße. 17 auch einen schönen Garten. Heute gehört dieses Haus der Koep’Johannschen Stiftung, die hier im Auftrag der alten Sophiengemeinde, heute Gemeinde am Weinberg, ein Zusammenschluss von 6 alten, ursprünglich selbständigen evangelischen Kirchengemeinden, die sich im weiteren Kiez hier einstmals befunden haben, soziale Projekte realisiert. Herauszuheben ist aber auch das Haus Tieckstraße. 1, dessen Erbauer eine eigene Wasserversorgung in das Haus integrierten in Form eines großen Wassertanks, der in Dachgeschosshöhe angebracht ist, quasi ein integrierter Wasserturm, weshalb das Haus über zwei separate Treppenaufgänge verfügt. Mir zumindest ist kein zweites Haus dieser Art bekannt.

Die Tieckstrasse liegt heute in einem angesagten Viertel Berlin, in City-Lage. Die Lücken, die der 2. Weltkrieg gerissen hatte, sind wieder bebaut. Die Straße enthält inzwischen Bäume, die bis in die DDR-Zeit hinein hier völlig undenkbar waren. Sie ist dadurch im Sommer nicht mehr so stickig, und sie bietet Vögeln und Insekten Lebensraum und verfügt über ein etwas besseres Mikroklima. Natürlich geht das zu Lasten des Straßenverkehres. Rollschuhe fahren, wie früher geht heute auch nicht mehr, weil das am Katzenkopfpflaster scheitert. Bausünden in Form von den neuen Eckhäusern, wie in allen Teilen Berlins sind auch hier zu beobachten. Aber es ist Leben in der Bude. Was die Zukunft bringt, weiß man nicht. Aber es ist der Tieckstraße., die sich auf historischem Terrain befindet, zumindest eine schöne Zukunft zu wünschen.

  

Der Autor, Dr. Martin Brucks, hat sich um diese Straße für die Aufbereitung eines an und für sich drögen Themas, der Berliner Mietshausbebauung verdient gemacht. Es ist ihm gelungen, einen kenntnisreichen Blick in die Vergangenheit einer anscheinend völlig normalen Berliner Mietshausstrasse zu werfen, der wiederum zeigt, wie einzigartig die Geschichte einer „normalen“ Straße sein kann. Geschichte gibt es niemals nur um Großen und Ganzen, sondern immer auch en Detail. Und es kommt darauf an, die Verbindungen zwischen den Details und den grossen Linien einer Geschichte zu sehen.