Weltanschauung statt Botschaft
Rezension Meinhard Miegel: Hybris
Meinhard Miegel: Hybris, Die überforderte Gesellschaft; ISBN 9783549074480; Propyläen Verlag;Berlin 2014; ebook; 319 Seiten
Miegels Hybris enthält eine Weltanschauung an Stelle einer Botschaft. Sie ist von einer Skepzis geprägt, einem diffusen Gefühl des Unwohlseins angesichts der Geschicke unserer Gesellschaft, die er auf einem schlechten Weg sieht; einem Weg der Überforderung und Überbeanspruchung; entsprungen einer Haltung, die in unaufgearbeiteten christlichen Selbstverständnis wurzelt, das doch eigentlich abgelegt sei. Tatsächlich jedoch führe sie zu völlig unrealistischen und überzogenen Zielen, und verführt die Menschen dazu, ständig an neuen babylonischen Türmen zu arbeiten. Das genau meint Miegel mit Hybris. In der Folge zerstörten wir Menschen nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Lebensgrundlagen, und müßten uns ändern. Dafür aber bietet Miegel keine Lösungen an. Phantasie und Kreativität sind seine Sache nicht. Er beglückt uns mit seinen Gedanken und Urteilen, folgt einer permanenten Selbstreflexion. Und wenn er andere Autoren zitiert, dann einzig zum Zwecke der Bestätigung seiner eigenen, ganz persönlichen Ansichten.
Miegels Hybris ist kein Sachbuch. Er führt nicht in eine Sache ein, um sie von verschiedenen Seiten zu beleuchten, sie bekannt und vertraut zu machen, Wege zu ihrer Beherrschung aufzuzeigen. Was Miegel mit Hybris geschrieben hat, ist eine Art Essay, also eine Art Betrachtung. Als Essayist ist der Autor nicht verpflichtet, wissenschaftlichen Kriterien zu genügen. Er darf sich seinen eigenen Gedanken hingeben, sie fortspinnen und im Assoziativen verharren. Und wenn es ihm dabei gelingt, in neue unbekannte geistige Welten vorzustoßen und neue Erkenntnisse zu generieren, einfach durch die Aneinanderreihung bekannter Fakten oder Erfahrungen, logische Schlußfolgerungen aus ihnen ziehend, die interessant und spannend sind, gleichzeitig einen gewissen Neuigkeitswert haben, so wird er seinen Lesern eine fesselnde Lektüre dabei bieten können. Doch umgekehrt wird die Lektüre eines Essays fad, wenn es in sich nicht widerspruchsfrei ist, und wenn der Autor öffentliche Erkenntnisse und widersprechende Ansichten ausblendet, sich also einer Diskussion nicht stellt. Gewisse aufklärerische Prinzipien sind auch für einen Essayisten unverzichtbar. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Diskursivität, das heißt die Zurkenntnisnahme eines breiten Meinungsstromes zum aufgeworfenen Problem, mit der ich mich als Schreiber eines Essays zumindest ansatzweise auseinandersetzen sollte.
Der Begriff Hybris bezeichnet bekanntlich eine Art hochmütiger Selbstüberschätzung. Dem Leser von Miegels Hybris stellt sich die Frage, ob dieser Autor nicht selbst an dieser der Gesellschaft diagnostizierten Krankheit leidet.
Es ist ein Kennzeichen unserer offenen, westlichen Gesellschaft immer wieder auch Krisensymptome zu attestieren. Die Kritik unserer Lebensweise ist eines ihrer Kennzeichen. Miegel, darüber hinausgehend attestiert aber eine
Krise der westlichen Kultur, die mit Begriffen wie Kapitalismus …. keineswegs hinreichend erfasst ist. (Dieser) ist vielmehr nur eine Erscheinungsform der viel umfangreicheren westlichen Kultur.
Richtig: den Westen kann man nicht auf die Wirtschaftsweise reduzieren. Miegel reicht es gar nicht aus, nur den Kapitalismus zu kritisieren. Er gehört nicht zu den Neomarxisten, die im Kapitalismus die Ursache aller Probleme sehen. Er sieht tiefer:
Die Essenz dieser Kultur (des Westens) ist der allem Anschein nach fehlgeschlagene Versuch, eine ursprünglich im Jenseitigen angesiedelte Idee, nämlich die Gottesidee völliger Unbegrenztheit diesseitig zu wenden.
Heißt: Wir Menschen machten uns heute selbst zu Gott. Das muß natürlich schiefgehen. Und das sieht Miegel auch:
Alles an (der westlichen Kultur) ist auf Exzess ausgelegt (was natürlich angelegt heißten muß (der Rezensent)): Bauten, Mobilität, Arbeit, Sport, Vergnügen, Technik, Kommunikation, Schulden und .. staatliche Aktivitäten. …. Das Ziel interessiert nicht. .. Und die meissten ziehen mit. …. Sie haben nichts anderes kennengelernt.
Das heißt, die Selbstvergottung des Westens sei mit Unwissen gepaart. Da braucht es natürlich jemanden wie Miegel, der uns mal die Augen öffnet. Und dass tut er mit Beispielen aus der Wirtschafts- und Arbeitswelt, in Bildung, Sport, Globalisierung, Sozialstaat und technischen Fortschritt. Er läßt nichts aus, keinen Firmenzusammenbruch, nicht Stuttgart 21, und nicht die täglichen Staus auf unseren Autobahnen. Natürlich muß auch die europäische Einigung herhalten, oder der Euro, den Miegel für eine Frühgeburt hält. An dieser Stelle bietet sich seine Argumentation übrigens gut für die Propaganda der „Alternative für Deutschland“ an. Denn er macht die Vision der Vereinigten Staaten von Europa runter, hält die europäische Integration für überzogen, und will lieber die nationalen Volkswirtschaften bewahrt wissen. Und natürlich kommt er auf die Eurokrise zu sprechen und macht die Verantwortlichen für die griechische oder portugiesische Misere in Brüssel ausfindig, was zwar wohlfeil, dafür aber falsch ist.
Kurz, er instrumentalisiert politische Probleme um seine These der Hybris des Westens zu stützen. Wie bei vielen Denkern geht auch bei ihm die Weltanschauung der Analyse voran. Miegel hinterläßt den Leser einigermaßen ratlos. Anregungen, wie der Hybris zu entkommen sei, finden sich außer einigen wagen Hinweisen kaum. Es ist überhaupt kein Vergleich zu dem großartigen Essay „Empört Euch“ von Stéphane Hessel, der dem allgemeinen Unbehagen ein Ziel gesetzt hat. Miegel ist ein Konservativer, war immerhin einst Chefberater von Kurt Biedenkopf und ranghoher Mitarbeiter der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Doch hat er sich als Wissenschaftler und Zukunftsforscher auch daran beteiligt, das Rentenalter hochzusetzen, weil die Rente nicht mehr finanzierbar sei. Eine These, die heute so nicht mehr haltbar ist. Das Unbehagen, das er formuliert, mag typisch für einen Teil des heutigen Bürgertums sein, weil die alte Welt der Zeit vor 1989 ohne Euro und kommunistische Gefahr untergegangen ist. Doch wer dabei stehen bleibt, bedient einzig die unterschiedlichsten Strömungen des populistischen Skeptizismus, wie bei AfD, Geert Wilders oder der Front Nationale von Madame Le Pen. Und dafür sollte sich Miegel eigentlich zu schade sein.