Besprechung:
She She Pop mit „Oratorium. Kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Geheimnis“ am Abend des 31.8.18 im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main
Von und mit: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Berit Stumpf sowie dem Chor der lokalen Delegierten.
Bühne: Sandra Fox, Kostüme: Lea Søvsø, Musik: Max Knoth, Künstlerische Mitarbeit: Ruschka Steininger, Hospitanz: Laia Ribera, Technische Leitung & Lichtdesign: Sven Nichterlein. Produktionsleitung: Anne Brammen, Kommunikation: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro, freie künstlerische Mitarbeit: Tina Ebert, Administration: Aminata Oelßner, Company Management: Elke Weber.
Eine Produktion von She She Pop in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer Berlin, Festival Theaterformen, Münchner Kammerspiele, Schauspiel Stuttgart, Kaserne Basel, Schauspiel Leipzig, Kampnagel Hamburg, Künstlerhaus Mousonturm, FFT Düsseldorf, Konfrontacje Teatralne Festival Lublin und ACT Independent Theater Festival Sofia.
Unverhofft bin ich dank meiner Frau Freitag Abend in einer spannenden, manchmal beklemmenden, aber lehrreichen, gelegentlich sogar lustigen Theateraufführung gewesen. Normalerweise wäre ich da nicht hingegangen, ja ich hätte nicht mal davon gewusst, geschweige denn mich dafür interessiert. Aber was tut man nicht alles, wenn es um Gemeinschaft geht. Sich einlassen aber auf Überraschendes; dieses spontane Dasein hatte schon immer etwas Kreatives, etwas Belebendes an sich. Ich habe diesen Theaterbesuch genossen.
Das Publikum wurde einbezogen. Es war Teil der Inszenierung. Aber das steht nicht an erster Stelle. Das ist heutzutage ja eher normal geworden.
Das ist eher ihr „performatives“ Element. Dabei handelt es sich zweifelsohne um eine Art von Theater. Es gibt die Schauspieler, es gibt eine Bühne, es gibt ein Publikum, es gibt eine Inszenierung. Das Publikum bleibt immer noch eher passiv. Aber es wird einbezogen in die Geschichte, die hier erzählt wird. Es muss einfach mitmachen, mitsprechen, an Hand von eingeblendeten Texten. Solange alle den gleichen Text sprechen, bildet das Publikum einen großen gemeinsamen Chor. Doch dann wird es auf aufgespalten in verschiedene Gruppen, quasi Subchören.
Und als ob das noch nicht reicht, wird eine dieser Subgruppen sogar auf die Bühne gebeten, sie tritt aus der Funktion des Chores heraus, und muss selbst mitspielen. Die Inszenierung bleibt dabei in ihrem geschlossenem Rahmen. Das Publikum tickt hier nicht aus. Hat auch kaum einen Anlass dazu. Insofern gibt es keine Überraschungen. Überrascht ist lediglich der einzelne Theaterbesucher, der, insofern er diese Art der Inszenierung noch nicht kennt, sich Herausforderungen gegenübersieht: Er kann nicht nur konsumieren. Seine Rede wird verlangt, ja provoziert, auch sein Nachdenken, sein Handeln, sogar sein Mitspielen.
Natürlich handelte es sich um einen höchst aktuellen Stoff, einen, den die Bundesregierung gerade zur wichtigsten sozialen Frage erklärt hat, die Mietenexplosionen in den Grossstädten und ihre sozialen und individuellen Folgen.
Doch die Geschichte, die hier erzählt wird, wenn man überhaupt von Erzählen sprechen will, eher zelebriert wird, beginnt mit einigen anderen Ungerechtigkeiten unserer Epoche, die jede für sich, eine Zumutung sind: der prekären Situation von Alleinerziehenden ohne Aussicht auf altersabsichernde Rente, oder Beschäftigungsverhältnissen, von denen man mehrere gleichzeitig ausüben muss, wenn man eine Familie ernähren will, Alltag gewissermassen für nicht wenige unserer Zeitgenossen, lange aber nicht alle, eher eine Minderheit. Und das wird so erzählt, als ob diese sozialen Probleme, die eine Folge der Veränderungen in unserer Industriegesellschaft sind, letztere quasi in Frage stellen. Es wird nach einer Haltung gefragt, die man dem entgegensetzen kann: Solidarität. Doch das Ensemble distanziert sich quasi selbst davon. Erst dann geht es wirklich zur Sache.
Bereits in den 80er Jahren erregten sich in der alten Bundesrepublik die Gemüter darüber, und sie mündete in die damalige Hausbesetzerszene, von der es bis heute Reste gibt, rudimentär und radikalisiert zwar, aber immer noch. Nun steigen seit über einem Jahrzehnt bei uns die Mieten wieder, mit den Folgen von Wuchermieten, Entmietungen, Verlust von Heimat, von vertrauten Kiezen, Verlust des eigenen Lebensraums. Geschichte wiederholt sich nicht, sagte Marx mal. Bei der Mietenexplosion aber hat man doch den Eindruck. Doch das ist nicht die einzige Folge dieser Art von Politik. Um das zu verdeutlichen greift She She Pop greift weit zurück, bis hinein in die Geschichte des Privateigentums - Römisches Recht; bis hinein zu Locke, der den Bürger über sein Privateigentum definiert, hin zu den Empfehlungen von Sachverständigenkommissionen, die bereits in den 80 und 90 Jahren der Bundesregierung die Stärkung von Eigentum, insbesondere der Vermögensbildung in Form von Eigentumswohnungen empfohlen hat. Spätestens da bin ich persönlich betroffen. Denn natürlich habe ich mitgemacht in dieser Art der Verbindung von Vermögensbildung und Wohnpolitik, wurde ja 2000 sogar Staatssekretär im zuständigen Bundesministerium für Verkehr, Bauen und Wohnen. Doch hier bin ich Gast, Publikum. Und ich bin spüre in mir, dass ich bereit bin, die Inszenierung als einseitig abzutun, als eine Art inszenierten Pranger, an dem die Bürger ihren Volkszorn an den moralisch Schuldigen einer verfehlten Politik abladen können. Doch die Inszenierung geht in diese Falle nicht hinein. Sie deutet sie an, sie benennt sie. Aber sie steht auch darüber, geht darüber hinaus.
Denn sie zeigt, wie unsere Gesellschaft sich verändert hat. Heute kann man kaum noch die Klasse der Miethaie einerseits, die Schuldigen, die Wucherer genau identifizieren, ohne festzustellen, dass die gleichen Leute z.T. auch die Klasse der Mieter, der Betroffenen bilden. Die Rollen wechseln, sie überlagern sich. Schuldige sind nicht mehr auszumachen. Wer mit dem Finger auf die Schuldigen zeigen will, muss plötzlich feststellen, dass er sich selbst an den Pranger stellt.
Doch ich greife vor. Hier muss ich doch zuerst auf die Geschichte selbst zurückkommen, die wenig individuelle Züge aufweist, gleichsam typisiert, aber immerhin erzählt wird. Es ist die Geschichte einer Mieterin, die die Historie ihrer eigenen Entmietung erzählt. Sie die in einer Frankfurter Wohnung wohnt, die ihr aber nicht gehört, sondern irgendjemanden anderen, wenn auch keinem Großinvestor, sondern einem Menschen wie Du und ich. Denn in der Rolle der Investoren tauchen auf einmal ein Pilot von AirBerlin (gut gewählt denke ich, dass Unternehmen gibt es schließlich nicht mehr. Wo mag der Pilot heute hingekommen sein??), aber auch ein ehemalige Praktikant dieser Mieterin auf. Das war er nämlich vor kurzem noch. Doch nun hat er geerbt, und nun sucht er eine passende Anlageform für sein geerbtes Vermögen. Vor drei Jahren war er noch ein armes, beklagenswertes, mitleiderheischendes Bürschchen. Nun findet er sich in der Rolle eines Miethaies wieder.
Die Mieterin, unsere Schriftstellerin berichtet von permanenten Besuchen irgendwelcher fremder Leute in ihrer Wohnung, die diese taxieren, abschätzen, genauso wie die Mieter selbst, die sich fremd vorkommen in der eigenen Wohnung, denen schon dadurch die eigenen vier Wände entfremdet werden. War da nicht was, gibt es nicht das Grundrecht der Unverletzlichkeit der privaten eigenen Wohnung? Zwar gilt dieses Grundrecht vor allem gegenüber dem Staat, kann also gegenüber einem Neuinvestor nicht geltend gemacht werden. Doch verletzt ist man trotzdem, und das völlig zu Recht.
Auf jeden Fall wird jetzt die Gruppe der Erbnehmer im Publikum identifiziert. Erst müssen sie chorisch artikulieren. Dann werden sie sogar auf die Bühne gebeten. Es sind von dem 150-köpfigen Publikum vielleicht zwanzig. Wahrscheinlich sogar mehr. Denn nicht jeder traut sich, sich zu seinem ererbten Vermögen zu bekennen. Denn auch für sie bedeutet das Bekenntnis zu dieser Rolle eine Art Pranger. Schließlich geht es um diejenigen, die nun Eigentumswohnungen, Häuser, Immobilien erben, die sie keinesfalls selber nur bewohnen. Sie sind plötzlich die Miethaie. Sie sind die Schuldigen. Und die wenigsten von ihnen wollen es sein, sind es vielleicht auch nicht. Doch danach fragt der Pranger ja nicht. Die Inszenierung schon.
Das Schauspiel lässt die 20 Leute das ererbte Vermögen zusammenrechen. Da zeigt sich, der groben Schätzung zufolge, die unter diesen Bedingungen überhaupt möglich ist, dass das über 5 Millionen € sind: 5 800 000 € hat die Gruppe der Erbnehmer auf der Bühne zusammengezählt. Das sucht nach Anlageformen. In Zeiten des schwachen Euro und der niedrigen Zinswerte, sind das Sachwerte. Und spätestens da sind wir beim Wohneigentum. Berlin, Frankfurt, Hamburg, Düsseldorf, Stuttgart, München vor allem können ein Lied davon singen. Es stellt sich heraus: wir, das Publikum ist in doppelter Weise betroffen. Man wohnt und ist Mieter, aber man besitzt auch und sucht nach Anlageformen, nach Rendite. Die moralische Aufgabe, die sich daraus ergibt ist höchst komplex.
Und so kann man heute nicht mehr unterscheiden, nach Besitz und Vermögen einerseits, nach Unterschicht, und Opfer andererseits. Zwar gibt es nach wie vor Opfer, nach wie vor Stinkreiche, manche sagen sogar, die Schicht nehme zu, doch kann es sich dabei auch um einen statistischen Effekt handeln. Wichtig aber ist, dass vor allem in der Mittelschicht, die Gruppe derer zunimmt, die sowohl Mieter wie Vermögensinhaber gleichermaßen sind. Das führt zu einem ganz neuen Dilemma. Handele ich als Mieter, würde ich am liebsten meine Mietzahlungen ganz reduzieren, finde ich meine Mieter immer zu hoch. Handele ich als Investor, dann will ich mein Vermögen vermehren, dann suche ich nach profitablen Anlageformen, dann investiere ich in eine Wohnung, und habe plötzlich einen Mieter am Hals, für den ich Verantwortung habe. Steht ja nicht nur im Grundgesetz, aber da steht es auch.
Es entstehen ganz neue Konfliktlagen, sie werden komplex, sie sind nicht mehr einfach lösbar, man steht nicht nur in einem Dilemma, das ganze Leben wird Dilemmafeld. So zeigt sich unsere bürgerliche Existenz heute. In dieser Erkenntnis gipfelt das Stück. Und obwohl sie das Publikum etwas ratlos zurücklässt, hat sie es doch bereichert. Denn nun kennen wir es, das Geheimnis. Unser Leben selbst ist komplizierter geworden. Mit Schuldzuweisungen kommen wir nicht weiter. Wir sind alle betroffen. Wir stehen alle vor neuen Aufgaben, müssen unsere Rollen durchdenken, müssen zu unseren Lösungen kommen. Wir können uns nicht drücken. Wir können unsere Verantwortung nicht anderen aufhalsen, nicht der Politik, nicht dem Geld, nicht den blöden Mietern, nicht den falschen Gesetzen, nicht einer falschen Stadtpolitik. Alles kommt zusammen und wirkt gemeinsam. Und wir sind mittendrin, und müssen eine Lösung finden, mit der wir leben können, und mit der wir Rechenschaft geben können allen anderen Menschen gegenüber, mit denen wir es in unserem Umkreis unserer Gesellschaft zu tun haben.
Letztlich war das schon immer so. Nur unsere Probleme sind gewachsen. Sie sind komplexer geworden, aber auch individueller. Verantwortung kann nicht mehr wegdelegiert werden. Man muss sich stellen.
Die Ratlosigkeit, die Verblüffung, in die diese Erkenntnis von She She Pop das Publikum geführt hat, kann produktiv sein. Dann war der Theaterbesuch seinen Eintritt wert. Was er gelernt hat, das verdankt der Besucher aber nicht den Schauspielern an sich, sondern seiner Bereitschaft, sich den ihm vor Augen geführten Dilemmata zu stellen. Dann war das aufgeführte Oratorium ein produktiver Anstoss.
Ich persönlich halte ja nichts von einer Theaterkunst, die sich einzig dem Ziele verschreibt, Bildung zu vermitteln, Anstöße zu geben, lehrreich zu sein. Kunst hat ihren Sinn über die vermittelte Bildung hinaus; die hat sie zwar auch, aber sie ist immer auch mehr. Sie ist ein Teil unserer Lebens, das einfach nur da sein will, ein Spiegel unseres Lebens selbst, und damit selbst zum Leben wird. Und wenn wir unser Leben studieren, wirklich studieren wollen, dann lernen wir immer selbst, und dann, aber auch nur dann, können wir auch von und in der Kunst lernen. Dann ist der Konsum von Kunst ein Vergnügen.
Brecht, dessen episches Theater dieser Inszenierung von She She Pop zweifelsohne Pate gestanden hat, hat zwar versucht, seinem Publikum ein vom ihm diagnostiziertes Brett vorm Kopf wegzuschlagen, in dem er es provoziert hat, indem er ihm die hollywoodhafte Identifizierung mit den Personen auf der Bühne, den Prinzessinnen, und Kämpfern, den Liebenden und den Betrogenen, den innerlich gespaltenen, und und den glücklichen, nahm. Brecht wollte zu Lerneffekten kommen. So kam er zu seinen Lehrstücken, denen immer auch etwas Propagandamäßiges anhaftet. Doch sein Publikum kam immer auch freiwillig, und es kam gerne. Denn Brecht war einer der besten Dramatiker, die der deutschsprachige Bühnenraum überhaupt kennt. Brecht hat es nicht geschafft, das Theater in eine Lehranstalt zu verwandeln. Erstaunlich, dass die modernen Theaterexperimente, von denen She She Pop zweifelsohne ein Teil ist, heute wieder mehr auf Brecht zurückgreifen. Zweifelsohne aber ist ihm mit diesem Oratorium. Kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Geheimnis eine gelungene Theateraufführung geglückt.
Was bleibt noch zu erwähnen: die Schauspieler wirkten wie Laien.Sind sie aber nicht. Die Inszenierung hat sich nicht ein einziges Mal elektronischer Hilfsmittel bedient. Das Bühnenbild war sparsam und genial. Toll, wie die Fahnen mit denen die Schauspieler zu Anfang auf die Bühne marschieren, sich im Laufe des Stückes in Gewänder und Kleider verwandelten, die sich die Schauspieler immer dann überstreiften, wenn sie in eine neue Rolle schlüpften; auch das ein typisches Element des Brecht'schen Epischen Theaters. Und die beiden Musiker, Vibraphon und Trompete, waren einfach großartig. Ihre Musik war die halbe Miete.
She She Pop reist im ganzen deutschsprachigen Theaterraum umher. Sie spielen mehr, als nur dieses Oratorium zum wohlgehüteten Geheimnis. Sehenswert sind sie allemal. Man lässt sich auf ein Abenteuer ein. Das ist mehr, als man von den meisten Kinofilmen sagen kann. Und vielleicht gelingt es ja, das Geheimnis zu lüften. Aber auch das ist heutzutage eine zutiefst persönliche Angelegenheit.
Link zur Produktion: https://sheshepop.de/oratorium/
Alle Bilder stammen von der Internetseite der Produktion.