Zwangsadoption ist mehr als ein traumatischer Moment, sie prägt ein ganzes Leben.

Katrin Behr; Peter Hartl: „Entrissen – Der Tag, als die DDR mir meine Mutter nahm“

Knaur Taschenbuch, Vollständige Taschenbuchausgabe, Drömerverlag München, 2014, 303 Seiten

Katrin Behr hat ihre Geschichte aufgeschrieben. 

 

Das Buch beginnt mit dem Moment des Jahres 1972, wo sie, als Vierjährige gemeinsam mit ihrem nur wenige Jahre älteren Bruder ihrer alleinerziehenden Mutter entrissen wird, weil sie im thüringischen Gera wegen eines vage geäußerten Ausreisewunsches in aller Frühe inhaftiert wird.

 

Dieser Moment am Anfang des Buches wird plastisch beschrieben; wie mitten im Morgengrauen Polizei in Zivil vor der Tür steht, und die Familie wachpoltert; wie unten ein Auto steht, in das die Mutter hineingepfercht wird; wie ein zufällig vorbeikommender Passant versucht einzuschreiten, und zur Ruhe gebracht wird; und wie zum Schluss eine fremde Frau, „die Frau vom Amt“ alleine mit den beiden Kindern auf dem Bürgersteig steht und diese zu ihrer Oma bringt. Da ist es noch keine Zwangsadoption, aber ein Verbrechen schon, auch wenn alles durch DDR-Gesetze abgesichert ist. Denn damals war ein Ausreiseantrag noch nicht legal; selbst ihn nur zu auszusprechen, bedeutete schon sich in den Augen der SED zu kriminalisieren.   

 

Eine Woche später bringt die Oma die beiden Kinder ins Heim. Ob freiwillig oder auf Druck, wie weit sie mit der DDR-Jugendhilfe, die die Kontrolle über die Kinder behält kooperiert, oder sich gezwungen sieht, zu kooperieren ist nicht ganz klar. Klar ist, sie liebt ihre Enkel, aber sie kann sie nicht behalten.

 

Für Katrin ist dieser Moment ein weiterer Abschied von ihrer Familie. Was ihr noch bleibt, ist der Bruder. Die Geschwister aber dürfen nicht zusammenbleiben.

 

Im Heim „puppt“ Katrin sich ein. Sie ist bis auf ihren Bruder von außen kaum noch ansprechbar. Spielt nicht mit den anderen, zieht sich zurück. Wenige Tage später erfolgt der erste Adoptionsversuch. Er glückt vor allem deshalb nicht, weil die Vierjährige ihrem Bruder nicht verlassen will, mit ihm zusammenbleiben.  Doch als sie endlich zurück im Heim ist, ist der Bruder nicht mehr da. Das ist der dritte Hammer. Es wird Jahre dauern, bis sie ihren Bruder wiedersehen kann.

 

Es gibt weitere Adoptionsversuche, die allesamt scheitern. Sie scheitern, weil das Kind Katrin sich nach seiner Mutter sehnt, und lange die Hoffnung behält, zu ihr zurückkehren zu können. Immerhin waren es die letzten Worte ihrer Mutter beim zwangsweisen Abschied, „Heute Abend bin ich wieder zu Hause.“ Daran klammert Katrin sich. Kleine Kinder können eine ungeheure Kraft bei sowas entfalten. Sie sind nicht einfach formbare Persönlichkeiten, sie tanzen nicht nach irgendwelchen Pfeifen, sie haben ihren Kopf. Und Katrin hat ihren. Klar ist, dass Katrin alles gegen eine neue Familie tut. Das ändert sich beim letzten Versuch ein wenig. Da ist schon etwas Zeit vergangen. Es ist ein Ehepaar; sie ist Lehrerin, ehrgeizig und auf Linie, er ist Handwerker, und Katrin zugetan. Zwischen diesen beiden entsteht ein Vertrauensverhältnis, weil der neue Vater es versteht, Katrin zu zeigen, dass er zu ihr hält, auch da wo sie es ihm schwermacht. Zwischen dem neuen Vater und Katrin entsteht eine Beziehung, die hält. Doch in der Familie herrscht die Mutter. Und die bleibt Katrin gegenüber kühl und distanziert.

 

Die Adoptivmutter benutzt das heranwachsende junge Mädchen als Putze im Haushalt. Sie muss arbeiten ohne Ende. Das wird noch schlimmer, als das Ehepaar plötzlich sogar unerwarteter Weise doch noch ein leibliches Kind bekommt.

 

In dieser Zeit des Heranwachsens taucht der Bruder ab und zu mal auf. Aber wirklich positiv wird das nicht geschildert. Beide sind Kinder, heranwachsende Jugendliche, wie sollen sie mit ihrem Schicksal umgehen? Im Grunde sind sie überfordert, wen wundert das?

 

Katrin will von zu Hause weg. Das gelingt ihr selbst durch ihre Berufsausbildung nicht, weil die Adoptiveltern, sie nennt sie im Buch da schon lange „Ihre Eltern“ ein Eigenheim besitzen, was der Aufnahme ins Internat entgegensteht. So versucht Katrin es mit einer Beziehung zu einem Soldaten, fern von der Heimat. Das endet in einer Ehe mit einem angehenden Politoffizier der NVA, der genauso linientreu wie die Adoptivmutter ist. Und dieser Mann ist als solcher zur Verschwiegenheit über sein berufliches Leben verpflichtet, redet also nicht. Das begünstigt die Ehe nicht gerade.

 

Interessant ist an dieser Stelle Katrins Einstellung zur DDR. Sie sieht sie bis dahin durchweg positiv. Das hängt mit ihrer Adoptivmutter zusammen, die stramme Genossin ist. 

 

Wir haben es also, und das ist ein interessanter Aspekt an dieser Autobiographie mit einem Fall von Zwangsadoption bei welchem die SED ihr Ziel mit Hilfe solcher Art von Adoptionen die Kinder ihren leiblichen Eltern zu entfremden und sie linientreu aufwachsen zu lassen, damit sie überzeugte DDR-Bürger werden, tatsächlich erreicht; allerdings nur äußerlich. Der Mann wünscht sich von ihr, dass sie in die SED eintritt. Sie willigt ein. Ihren Schritt begründet sie einzig mit Rücksichtnahme auf dessen berufliche Entwicklung, der sie nicht im Wege stehen will. Sie will, dass es ihm gut geht. Dem ordnet sie sich unter.

Auch das ist ein interessanter Aspekt. Denn diese Anekdote aus Katrins Leben legt Zeugnis ab über ihr mangelndes Selbstbewusstsein, über eine beschädigte Seele. Daran wird Katrin lange zu knabbern haben.

 

Die Ehe beginnt zu kriseln. Zwar bekommt das Paar ein Kind, doch das kittet nicht wirklich. Katrin fühlt sich vernachlässigt. Was sie sich an Zuneigung von ihrem Mann erwünscht, bekommt sie nicht. Eine Scheidung kommt in Sicht.

 

Eine spezifische Krankheit ihres zweiten Kindes bringt eine Wende in ihrem Leben. Denn diese Krankheit ist genetischen Ursprungs, die Ärzte brauchen Daten ihrer leiblichen Eltern. Und da kommt ihre leibliche Mutter wieder ins Spiel. Man beginnt sich abzutasten, erste Ausspracheversuche vorzunehmen. Das geht ganz gut, bis Katrin auf die Idee kommt, eine Begegnung ihrer leiblichen Mutter mit ihren Adoptiveltern herbeizuführen. Das nämlich  geht gründlich schief. Man kann sich das vorstellen. Unterschiedlicher kann man die DDR gar nicht wahrgenommen haben. Die Mutter als politisches Opfer der DDR, die Adoptivmutter als linientreu, im Grunde Stütze des Systems.

 

Ohnehin bleibt auch der Kontakt zur leiblichen Mutter schwierig.

 

Es sind ihre dauernden beruflichen Misserfolge, in deren Folge Katrin, nun selber alleinerziehende Mutter arbeitslos wird und sich im sozialen Netz befindet. Sie schlägt sich irgendwie durch, scheitert aber immer wieder. Schließlich erkrankt sie ernstlich, sie muss eine Existenzkrise bewältigen und beginnt endlich eine Therapie. Sie macht sich klar, dass ihr Leben von ihren Kindheitstraumata in einer Weise bestimmt wird, dass sie nicht mehr umhin kommt, sich ernstlich damit auseinanderzusetzen.

 

Der Leser nimmt das als Wende war.

 

Ihr Buch ist keineswegs ein Schönwetterbuch, mit einem einfachen Happyend, kein Buch nach der Devise, in der DDR war alles schlecht, danach wurde alles gut. Katrin bleibt eigentlich nichts erspart. Doch die Beschäftigung mit ihrem eigenen Schicksal, ihr Gang in die Öffentlichkeit sind richtige Wege, die ihr geholfen haben, sich selbst eine neue Perspektive zu erarbeiten.

 

Heute ist Katrin Behr Mitarbeiterin in der UOKG, der Union der Opferverbände der Kommunistischen Gewaltherrschaft. Sie hat ein Internetportal entwickelt, mit dessen Hilfe Kinder, die ein ähnliches Schicksal wie sie hinter sich haben, ihre leiblichen Eltern wiederfinden können. Sie hat den ersten Kongress zu diesem Thema durchgeführt. Und damit hat sie es geschafft, die DDR-Forschung um dieses Thema zu bereichern, nach dem hier fast 2 Jahrzehnte Ruhe herrschte. Die Opfergruppe der in der DDR Zwangsadoptierten ist groß. Sie ist nicht die Einzige, die vor der Riesenaufgabe stand, ihr Leben aufzuarbeiten, um es meistern zu können. Und die Zahl derjenigen, denen das bewusst ist, nimmt zu. Katrin Behr hat hier Schrittmacherdienste geleistet. Es ist ihr und diesem Buch zu wünschen, dass damit persönliche und gesellschaftliche Aufarbeitung Hand in Hand gehen.

 

Das Buch ist flott geschrieben. Es ist zu vermuten, dass dies dem Koautor, Peter Hartl zu verdanken ist. Wahrscheinlich geht auch der stilistische Kunstgriffs des Rückblicks, auf ihn zurück. Damit gibt es mehrere Erzählstränge, sie sich gegenseitig ergänzen und zum Schluss auflösen. Man kann es gut lesen. Es seien ihm viele Leser vergönnt.

Katrin Behr wurde 1967 in Gera geboren und lebt heute in Berlin. 2007 gründete sie den Verein "Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen". Seit 2010 engagiert sie sich hauptamtlich für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft. 

Peter Hartl, Jahrgang 1961, ist seit 1991 als Filmautor und Redakteur an den großen Dokumentarreihen der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte beteiligt. Neben seiner Fernsehtätigkeit schreibt er über zeithistorische Themen.