Aggressivität als Aspekt des Lebens
Geleitwort zum jüngst erschienenen Buch des Liedermachers und Psychiaters Karl-Heinz Bomberg "Was Menschen Menschen antun"
174 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm
1. Aufl. 2024
Erschienen: September 2024
ISBN-13: 978-3-8379-3381-9
Bestell-Nr.: 3381
https://doi.org/10.30820/9783837962727
Die Exekution politischen Strafrechts, ganz gleich unter welchen politischen Farben sie stattfindet, ist gewiss ein Ausfluss destruktiven Verhaltens von Menschen, also ihrer aggressiven Seite, und zwar sowohl als Motiv zur politischen Drangsalierung als auch als Wesenserscheinung bei jenen, die die politische Verfolgung durchzuführen haben, von Amts wegen.
In der Regel rücken bei einer Darstellung politischen Unrechts die Opfer ins Zentrum der Betrachtung. Das ist im vorliegenden Buch auch der Fall. Gleichzeitig geht der Blick darüber hinaus. Nicht nur, dass die durch die politische Verfolgung – bis heute – Traumatisierten selbst zur Sprache kommen. Sie sind allesamt auch Autoren dieses Buchs. Vielmehr hinterfragt sein Herausgeber, in Personalunion Autor, Therapeut und selbst Opfer der SED-Diktatur vom Grundsatz her die Folgen erlittener Traumatisierung, und zwar ihre seelischen.
Wir sind hier bei einer der dunkelsten Seite von uns Menschen. Denn Aggressivität ist uns allen eigen. Neben vielen Eigenschaften, die wir Menschen haben, können wir auch kämpfen. Verbal, mit Gesten, Worten, Fäusten und mit Waffen. Und es wäre ein gewaltiger Irrtum anzunehmen, diese Aggressivität wäre etwas per se Schlechtes. Aber mit dieser Sicht befindet man sich schnell auf dünnem Eis. Denn obwohl Aggressivität allen Menschen eigen ist, versuchen sich nicht wenige davon zu distanzieren und sind auf der Suche nach Wegen, diese unter Kontrolle zu behalten, sich ihre eigene aggressiven Fallen bewusst zu machen, um sie im Falle eines Falles umgehen, vermeiden zu können. Diesen Weg geht Karl-Heinz Bomberg nicht. Im Gegenteil, er unterscheidet – dabei seinen psychologischen Lehrmeistern Freud und Fromm folgend – sogar zwischen guter und schlechter Aggression, zwischen destruktiver und konstruktiver. Ich muss zugeben, dass ich etwas gestutzt habe.
Aber natürlich ist das richtig. Aggressiv ist es nicht nur, andere Menschen zu unterdrücken, sie zu demütigen, zu beschimpfen, kurz: ihnen Gewalt jedweder Art anzutun. Seine kämpferischen Fähigkeiten braucht man auch, wenn man sich behaupten muss, sich wehren, mit Worten wie mit Taten. Nicht die Aggression als solche, letztlich die Fähigkeit dazu ist das Problem, sondern das Ziel und die Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Wenn heute ein neuer Trend darin besteht, mit Hilfe von Anti-Aggressionstraining den eigenen Aggressionstrieb kontrollieren zu können, so bleibt es eine Illusion, diesen in uns Menschen einzudämmen bzw. ganz zum Erliegen zu bringen und den Homo sapiens damit insgesamt friedlicher, quasi menschlicher zu machen. Natürlich, das, was im politischen Raum Menschen einander antun und angetan haben, ist ohne den Aggressionstrieb schlechthin nicht erklärbar. Und das gilt insbesondere für die politische Verfolgung zu DDR-Zeiten. Ohne Unterdrückungsmechanismen hätte die SED-Diktatur nicht überleben können. Dafür gab es das politische Strafrecht, die Stasi-Gefängnisse Hohenschönhausen und Normannenstraße, Bautzen und Cottbus, Chemnitz und Halle oder den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, in dem Jugendliche gebrochen werden sollten. Und wer diese Einrichtungen von innen gesehen hat, wer ihnen ausgeliefert, unterworfen worden war, der braucht nicht selten auch heute noch Hilfe, ja manchmal braucht er sie überhaupt erst heute, weil erst jetzt wegen unterschiedlichster Ereignisse plötzlich die Traumata von gestern wieder lebendig werden.
Dabei wirken der Krieg in der Ukraine, aber auch die Coronapandemie-Erfahrungen wie Neuauslöser der alten verdrängten, tief verbunkerten Trauma-Erfahrungen. Und diese lösen heute neue Ängste aus, die an die alten anknüpfen. Trauma-Erfahrungen vergehen nicht. Man kann es wohl lernen, mit ihnen umzugehen, sie zu verstehen, Antworten zu finden, man kann wohl mit ihnen leben lernen und man kann auch wieder alltagsfähig werden. Allerdings – nicht jeder kann das. Es ist das Verdienst des Autoren, sich dieser Lebensbiografien angenommen zu haben und Ansprechpartner zu sein, für alle, die durch den Leidensweg politischer Verfolgung in der SED-Diktatur gegangen sind. Karl-Heinz Bomberg ist nicht nur ein Autor, der den Opfern die Möglichkeit gibt, ihre Erfahrungen im öffentlichen Raum zu artikulieren – schon das ist eine wichtige Form der Therapie –, sondern er bietet vor allem direkte und praktische, therapeutische Hilfe an. Dabei kommt ihm vielleicht zugute, dass er selbst Repressionserfahrungen zu verarbeiten hat. Ich glaube allerdings, dass das keine therapeutische Voraussetzung ist. Es hilft vielleicht beim Verstehen und es senkt die Hemmschwelle. Aus Opfern von gestern sind Patienten geworden. Das ist schon mal ein Fortschritt. Aber eben nur ein Schritt.
Was Menschen Menschen antun hat so viele Seiten. Auch wer verfolgt war und heute an seinen Traumata zu knabbern hat, ist nicht frei von Aggression. Wie könnte er, gerade er? Die Vorwürfe gegenüber einer scheinbar ignoranten Gesellschaft oder herzlosen Politik, die im vorliegenden Buch von den einst politisch Verfolgten artikuliert werden, sind dennoch authentisch. Sie kommen von Herzen, unmittelbar aus dem eigenen Erleben und Reflektieren. Wer sind wir, wenn wir uns hinstellen und sagen: Das ist doch alles Unsinn, das stimmt doch so nicht! Wer zu diesen Reflexionen vordringt – und ich empfehle deren Lektüre sehr –, der wird sich sagen müssen, dass es eben nicht damit getan ist, nur einfach die Fakten zu nennen. Empathie ist auch da notwendig, wo ein rationaler Zugang faktisch nicht mehr möglich ist. Doch das heißt ja nicht, dass er das in Zukunft nicht wieder sein wird. Und das betrifft lange nicht nur ehemalige Opfer der SED-Diktatur.
Eine der Schwächen unserer Demokratie besteht in ihrer Beschränkung auf den rationalen Diskurs. Akzeptiert wird nur, was logisch, verständlich, letztlich vernünftig erscheint. Aber Menschen sind nicht nur logisch, rational und vernünftig. Häufig – und heute zunehmend – fällt das, was der Einzelne als vernünftig ansieht und empfindet, und der politische Diskurs auseinander. Wer nicht »vernünftig« argumentiert, der kommt im politischen Diskurs nicht mehr vor. Die Folge ist, dass die Lüge, die Demagogie sich selbst ermächtigt hat und mit Macht unseren politischen Diskurs verändert.
Die Bindungskräfte und die Fähigkeit zur Integration unserer Demokratie sind in geradezu erschreckender Weise erodiert, ohne dass die sich als demokratisch verstehenden Parteien – als Altparteien, Establishment oder etablierte verunglimpft – Mittel und Wege gefunden hätten, den Anliegen derjenigen, die seit Jahrzehnten sichtbar vor unser aller Augen in die politische innere Emigration gegangen sind, wieder eine Stimme zu geben, ihnen das Gefühl zu geben, dass auch ihre Anliegen in der Politik verhandelt werden. Sicher, das ist keine Einbahnstraße, aber eben auch keine der Wähler. Dort wo das Verständnis füreinander abgenommen hat, wo der Diskurs zum Erliegen gekommen ist, wächst die Aggression unhaltbar. Und Arroganz und Hochmut sind auch eine Form von Aggression.
In der Demokratie brauchen wir den Respekt voreinander und gegenüber jedermann und -frau, ganz gleich, für wie legitim wir die Anliegen oder Ansprüche halten. Antonia Grunenberg hat sehr schön beschrieben, dass die Demokratie davon lebt, dass möglichst alle politischen Positionen in unserer Gesellschaft in unseren Diskurs gehören, ohne sie zu tabuisieren, zu ignorieren oder gar verbieten zu wollen. Sicher ist das gelegentlich auch ein Balanceakt. Aber Positionen abzulehnen heißt ja nicht, damit auch ihre Vertreter zu ignorieren. Reden müssen wir mit allen, doch das tut unsere Demokratie schon lange nicht mehr. Karl-Heinz Bomberg hat Recht, wenn er anmahnt, dass die Demokratie es wieder lernen muss, die harte Arbeit der Kompromissfindung, das Ausloten dessen, was machbar ist und was genau aus diesem Grund die Mitte der Gesellschaft darstellt, auf sich zu nehmen, ohne in die immer weiter um sich greifende Ausgrenzungsreflexe zu geraten.
Wir leben in unserer Demokratie nicht in der besten aller Welten. Es ist die für das Selbstbestimmungsrecht der Menschen angemessene Staatsform. Frei von Anfechtungen ist unsere Demokratie nicht. Unsere Gesellschaft wird sich immer weiter ausdifferenzieren. Jemand, der heute schon meint, dass es nun mal reicht, wird erleben müssen, dass das eigentlich erst der Anfang war. Wir müssen uns gegenseitig akzeptieren und ernst nehmen. Der Diskurs, auch unser demokratischer, darf nicht nur von der sogenannten Elite bestimmt werden. Alle Menschen gehören in ihn hinein. Da, wo die Menschen das Gefühl haben, dass auch sie wichtig sind, da entsteht Vertrauen, da kann auch Sicherheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen wachsen. Und dann muss man vielleicht nicht den Ausweg in die eigene Fähigkeit zur Destruktion suchen. Das ist ein weiter Weg. Aber er ist eben auch das Ziel.
Stephan Hilsberg
Berlin, im Mai 2024