Sind die freien Schulen eine Gefahr oder eine Herausforderung für die öffentliche Schullandschaft?
(gesendet Deutschland-Radio-Kultur 3/11)
Im Alten Testament findet sich eine Geschichte, die beschreibt, wie während der babylonischen Gefangenschaft des Volkes Israel eine Hand eine unheilverkündende Botschaft dem babylonischen König
Belsazar an die Palastwand schreibt: „Deine Herrschaft wird ein Ende haben!“. Entsprechend der hebräischen Übersetzung dieser Botschaft heißen solche Warnungen seitdem Menetekel. In der Politik
dienen Menetekel dazu, Angst und Furcht zu erzeugen.
In Brandenburg z.B. wurde vor kurzem mit einem Menetekel die Furcht erzeugt, daß die freien Schulen zu einer Gefahr für das staatliche Schulsystem geworden seien.
In der Tat, die freien Schulen expandieren gewaltig und entwickeln sich zu einer echten Herausforderung für das staatliche Schulsystem. Das muss sich anstrengen, um mit der Attraktivität der
freien, in der Regel evangelischen, manchmal aber auch Walldorf- oder Montessori-Schulen mithalten zu können. Zwar sind auch die freien Schulen öffentlich, was heißt, dass jeder seine Kinder hier
beschulen lassen kann, der es möchte und solange der Platz reicht. Aber die freien Schulen nehmen Schulgeld von durchschnittlich 100 € im Monat, was die staatlichen Schulen nicht tun, und die
Lehrer der freien Schulen verdienen auch ca. 25 bis 30 weniger. Finanziell gesehen, sind diese Schulen also keineswegs attraktiv. Dennoch, und das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen, ist
der Run auf die freien Schulen ungebremst. Dabei scheint der konfessionelle Charakter der evangelischen Schulen bei weitem nicht ausschlaggebend zu sein. Viele Eltern, die sich selber gar nicht
zur Kirche halten, vertrauen gleichwohl deren Schulen.
Und so kommt das staatliche Schulsystem mit seinem öffentlichen Auftrag der Daseinsvorsorge in Sachen Grundbildung unter Druck.
Natürlich gibt es hier Des-Integrationserscheinungen. Die sogenannten bildungsnahen Schichten wandern aus dem öffentlichen Schulsystem aus, und überlassen dem Staat die eher bildungsferneren
Schichten. Dieser Trennungsprozeß läßt sich zur Zeit besonders in Ostdeutschland beobachten. Doch kennt man dieses Problem auch in manche einer westdeutschen Region. Und es ist keine Frage, dass
die Politik diesem Phänomen nicht tatenlos zusehen darf. Eine Schulreform ist also dringlich.
Und sie sollte sich, der Logik des Abwanderungsprozesses folgend, zuerst fragen, was eigentlich die freien Schulen so attraktiv macht, dass die Eltern bereit sind, Schulgeld für sonst kostenlose
Leistungen zu zahlen, und Lehrer bereit sind auf einen Teil ihres Einkommens zu verzichten. Das hat nichts mit Ideologie oder Religion zu tun, sondern mit der juristischen und praktischen
Autonomie der freien Schulen. Diese können über ihr Personal frei verfügen, sie können über ihr schulisches Profil nicht nur nachdenken, sondern es auch durchsetzen, und sie können ihr Tun
gegenüber den Eltern besser verantworten, weil sie es korrigieren können. Kurz sie verfügen über mehr pädagogischen Spielraum als die staatlichen Schulen, die zwar auch gute Lehrer und viele
Ideen haben, aber eine Schulverwaltung über sich, die mit ihrer Personalpolitik in die Schulen hineinregiert und deren pädagogische Anstrengungen damit nicht selten konterkariert.
Wir haben es hier mit Machtstrukturen der Verwaltung zu tun. Und die ist die eigentliche Herausforderung der Politik. Wer die staatlichen Schulen wirklich reformieren will, wer ihnen Instrumente
in die Hand geben will, um mit den freien Schulen mithalten zu können, der muß die Schulverwaltung entmachten, und den staatlichen Schulen mehr Autonomie geben.
Brandenburg, nebenbei auch Sachsen, und im Westen Bayern aber gehen einen anderen Weg. Sie wollen den freien Schulen die Mittel kürzen, und deren Neugründungen erschweren. So kann man natürlich
auch Chancengleichheit schaffen, tatsächlich aber schafft man nur Verlierer.
Was ist los mit dieser Art von Schulpolitik, dass sie sich so unkritisch mit den Interessen ihrer Schulverwaltung identifiziert? Die Verwaltung hatte schon immer einen guten, geradezu
privilegierten Zugang zur Regierungspolitik, und das ist auch gut so. Aber eine kluge Regierungspolitik läßt sich von ihrer Verwaltung das Handeln nicht diktieren, sondern denkt in erster Linie
an das, was die Gesellschaft braucht. Der Staat muß Dienstleister für die Gesellschaft sein. Die von ihm gesetzten Rahmenbedingungen dürfen nicht zu einer Zwangsjacke werden.
Gesellschaftlicher Fortschritt hat immer auch mit einem Zuwachs an Freiheit zu tun. In Sachen Schule heißt Freiheit Autonomie. Dementsprechend muß die Politik den staatlichen Schulen endlich das
geben, was die freien Schulen bereits haben: nämlich mehr Freiheit, also Autonomie. Der Konflikt mit der Schulverwaltung ließe sich aushalten, den staatlichen Schulen und damit dem
unverzichtbaren, staatlichen Bildungsauftrag aber wäre dauerhaft geholfen.