Westberlin – die große Stadt Westberlin
Beitrag für ein unveröffentlichtes Buch von Uwe Lehmann-Brauns
Westberlin, die große Stadt Westberlin hat für mich immer einen Zauberklang.
Ich bin ein Kind Berlins. Als die Mauer gebaut wurde, war ich 5 Jahre alt und lebte in Ostberlin. Doch schon damals gab es dieses herrliche Westberlin, von dem meine Mutter schwärmte, aus dem unsere Verwandten kamen. In Westberlin gab es schönere Läden, bessere Lebensmittel, schöne Kaffees, bunte Zeitungen, konnte man sich wohlerfühlen. In Westberlin konnte man reden was man wollte, konnte man lesen, was man wollte. In Westberlin gab es eine freie Universität, im Osten gab es nur die Humboldt-Uni, ein Ort, den die Kommunisten für sich dienstbar gemacht hatten. In Westberlin verdienten die Leute mehr, die Busse sahen schöner aus, gelber. Die Straßen waren heller, die Menschen freundlicher. In Westberlin gab es schönere Kinos und bessere Filme.
Natürlich dies ist ein übernommenes, geprägtes Bild, und doch war es mein Bild. Ich sehe mich noch als kleiner Steppke im Auto meiner Verwandten durchs Brandenburger Tor fahren. Ich sehe noch die Kontrollposten, die hier die Ausweise kontrollierten. Ich spüre noch die kleine Nervosität meines Onkels, der als Westberliner nichts zu befürchten hatte. Wohin wir fuhren, weiß ich nicht mehr. Aber an die Fahrt durchs Brandenburger Tor kann ich mich gut erinnern.
Ich erinnere mich an die Fahrten mit der U-Bahn, diesem typischen Westberliner Fortbewegungsmittel, gebaut und entwickelt, um von der zunehmend maroderen S-Bahn unabhängig zu werden, was gleichzeitig eine politische Unabhängigkeit bedeutete, mindestens genauso wichtig.
Für mich als Kind gab es in Westberlin sogar schönere Spielplätze. Ich weiß nicht warum, jedesmal wenn ich diese Geschichte erzähle, gucken mich meine Zuhörer so ungläubig an. Das kann doch nicht sein, meinen sie. Aber es stimmt, die Spielplätze in Westberlin waren schöner, und der Sand heller.
Als die Mauer gebaut wurde, konnte ich es nicht glauben. Das machte den Osten noch dunkler, als er sowieso schon war. Wir machten als Familie, Mutter, Vater, wir vier Geschwister einen Ausflug in Richtung Kreuzberg, von der Rungestr. in Ostberlin, wo wir wohnten, (den nicht ganz so Kundigen sei beschrieben, das ist die Straße, wo der Bärenzwinger ist, dessen Bären leider von hier entfernt wurden, weil sie hier angeblich nicht artgerecht gehalten werden konnten) zum Engelbecken, dem Goldfischteich, in das ich in diesem Sommer als kleiner Steppke mal reingefallen war. An welcher Stelle wir dann anschließend standen, weiß ich nicht mehr. Aber an das Bild, das sich mir bot, kann ich mich gut erinnern. Stacheldraht war aufgezogen, uniformierte Männer mit MP standen davor. Berliner vor und hinter dem Stacheldraht, die so komisch ironisch grinsten, wie es die Berliner immer tun, wenn etwas völlig ungläubiges passiert. Manchmal wurde ein Wort gewechselt – von hüben nach drüber, eine Trennung, die vorher schon da war, jetzt zementiert wurde, um noch tiefere Spuren im Leben der Berliner zu hinterlassen. Dass ich da nicht mehr zu meinem Spielplatz kam, war wohl das kleinste Übel.
Ich träumte von Westberlin, träumte von der Fahrt mit der U-Bahn, der Fahrt zu unseren Verwandten nach Zehlendorf. Ich spürte die Trauer meiner Mutter und die versuchte coolness meines Vaters, der das ganze mit ein paar lustigen Sprüchen zu kommentieren versuchte, aber sich innerlich fürchterlich ärgerte, ja im Grunde grämte darüber.
Das Leben in Ostberlin ging weiter. Nach einer Pause besuchten uns unsere Verwandten wieder, zuerst die aus Westdeutschland, dann auch die aus Westberlin. Anfangs war es jedesmal eine große Aufregung, aber dann gewöhnten wir uns daran. Wir hatten viel Westbesuch, manchmal zweimal die Woche, einmal aber war die Regel. Wir hatten auch viel Westpakete, die wir Kinder immer erfreut begrüßten, das wir wie Weihnachten empfanden, weil immer herrliche Kleinigkeiten dabei waren. Sie waren ein kleines Fest für die ganze Familie.
Ich trennte mich nicht von Westberlin. Zwar träumte ich nicht mehr davon, das hatte so zwei drei Jahre nach dem Mauerbau aufgehört, aber ich dachte es immer mit. Von unseren Wohnungsfenstern, jetzt in der Tieckstraße wohnend, verband uns vieles mit Westberlin. Unter dem Haus fuhr die S-Bahn durch, was man an den Erschütterungen merkte. Kurze Zeit später tauchte dann eine S-Bahn auf den Gleisen im Norden hinter dem Nordbahnhof aus dem Tunnel auf, von dem mir plötzlich bewußt war, dass er es ja war, der die Erschütterungen des Hauses ausgelöst hatte. Dort fuhren auch die dicken, gelben Doppelstockbusse auf der letzten Westberliner Straße vor der Mauer um die Ecke. Dort standen in den ersten Jahren nach dem Mauerbau abends in der Dunkelheit Kerzen in den Fenstern, und flackerten. Dort gab es eine Kirche, deren Besonderheit die funktionierende Turmuhr war. Wer gute Augen hatte, konnte die Zeit erkennen.
Eine besondere Klammer waren die Flugzeuge, die auf ihrem Anflug nach Tegel regelmäßig über unser Haus hinwegflogen, und damals noch keineswegs schalldämmend gebaut waren, und also einen Höllenlärm machten. Man konnte bei offenen Fenster manchmal sein eigenes Wort nicht verstehen. Jedes Flugzeug vermittelte eine Vorstellung des Westberliner Flughafens, den ich noch nie gesehen hatte.
Auf den Berliner Stadtplänen, die es in Ostberlin, genannt „Berlin - Hauptstadt der DDR“ zu kaufen gab, sollte Westberlin nicht existieren. Statt dessen erstreckte sich hier eine große weiße Fläche ab jener Linie, wo Westberlin begann. Wir konnten nicht einmal die Stadtteile erkennen, die alten Bezirke. Ostberlin wollte, dass wir nichts von Westberlin wußten. So konzentrierte sich alles aufs Hörensagen. Den Rest bewerkstelligte die Phantasie.
Als sich Kreuzberg zu entwickeln begann, hatte ich keine Vorstellung davon, wo dieser Stadtteil überhaupt lag. Aber natürlich nahmen wir Anteil an der Hausbesetzerszene. Offenbar entwickelte sich da aus maroder Altbausubstanz ein ganz eigenes, ja neues Leben. Häuser besetzen wurde dann auch in Ostberlin modern.
Und dann die Ausreiserbewegung. Viele von ihnen, gerade Jugendliche landeten in Westberlin. Diese Ausreiser, die mir suspekt und geheimnisvoll vorkamen, trauten sich etwas, aber waren doch verpönt. Neid schwang auch mit. Und als die DDR die ersten abschob, nicht nur Biermann, sondern auch Jürgen Fuchs, Roland Jahn, Gerulf Pannach, und ich manche Klage über das Abgeschobensein hörte, schwang bei mir auch Verachtung mit. Sie landeten im Paradies, aber beklagten sich trotzdem. Viel ist zu diesem Komplex zu sagen. Hier kann es nur angedeutet werden. Doch die Verbundenheit zwischen Ost und West wurde in Berlin ganz sichtbar. Und ganz langsam wuchs ein Bewußtsein von einer Stadt Berlin heran, die vorher immer in zwei Teilen gedacht waren.
Das waren die achtziger Jahre.
Die brachten auch die Verwandtenbesuche zweiten Grades, was vielen DDR-Bewohnern ermöglichte, das erstemal in ihrem Leben in den Westen zu reisen. Ich besuchte ihn mit Westberlin 1986 das erstemal. Und ich hatte zu tun. Ich mußte begreifen, wo ich hier eigentlich war. Und ich begriff, dass das meine Stadt ist, Westberlin, aber nicht als Westberlin, sondern als Teil von Berlin. Und ich begriff auch, dass das auch mein Land ist, das mir gehört, von dem ich ein Teil bin, dessen Geschichte auch meine Geschichte ist. Ich knüpfte hier wieder an meine Erinnerungen aus Kindheitstagen wieder an. Aber ich begriff auch, wie weit das alles auseinander lag.
Alles war anders in Westberlin, bunter, greller, schriller, aber auch sauberer, geleckter, manchmal sogar öde und piefig, trotz aller Ordnungsliebe. Und nun konnte ich sogar hinter der Berliner Fassade und meinen politischen Assoziationen das alltägliche Leben der Westberliner entdecken. Hier war auch nicht alles Gold was glänzt. Man sollte sich nicht täuschen lassen. Trotz Berlin-Pauschale war die Arbeitslosigkeit hoch, die Politik provinziell verkümmert, und das Bestreben nach normalen Umgang mit der DDR reine Augenauswischerei. Natürlich, irgendwie mußte ja über den Potsdamer Platz, die S-Bahnen, die Transitwege und dergleichen mehr geredet werden. Doch das Bild, was in Westberlin über die DDR gepflegt wurde, widersprach meiner Lebenserfahrung zutiefst.
Westberlin war für mich damals nicht greifbar. Ich stand auf dem Breitscheidplatz, genoss das Europacenter, fotografierte ohne Ende, aber spürte, dass ich nur Gast bin. Ohne Geld, ohne Hilfe, hilflos. Ich spürte auch, dass ich kein Westberliner war. Ich war Berliner, Ost-Berliner. Und ich war stolz darauf, obwohl dieser Stolz mit der Annahme einer riesengroßen Herausforderung verbunden war. Es war meine ältere Schwester, die wegen eines Krebsleidens und der daraus folgenden Invalidisierung früher als ich in den Westen reisen konnte, mich darauf hinwies, wie toll diese Stadt mal sein könnte, wenn beide Teile wieder zusammenkamen: Das erstemal, dass ich diese Vision vernahm, einvernahm.
Diese Momente in Westberlin haben mir damals sehr geholfen, in meiner Vorstellung mit der deutschen Teilungsrealität klarzukommen. Das ist ein großer Vorteil wenn man sich zu jener Zeit daran machen wollte, in die Politik zu gehen. Damals hätte ich es so nicht genannt. 1988 brachte ich mich 1988 in die Oppositionsbewegung der DDR ein, und im Herbst 89 begründete ich die SDP mit.
Als die Mauer fiel, fühlte ich mich vorbereitet, wie sehr steht auf einem anderen Blatt. Ich genoß es, frei von Ost nach West und umgekehrt zu reisen. Jedesmal wenn ich die alte Mauerlinie übertrat spürte ich einen Schauder im Rücken, und ein Glücksgefühl im Bauch. Das hielt Jahre an. Heute habe ich es nicht mehr.
Ich genieße dieses Westberlin, immer noch. Manche Leute sprechen der political correctnes wegen von Westteil. Das ist eine Kaschierung. Für mich ist es Westberlin. Westberlin ist ein Teil Berlins, und ich bin Ostberliner, heute aber mehr Mitte-Berliner, denn dort wohne ich und fühle mich wohl hier. Ich bin stolz auf diese Stadt, darauf, dass sie die Teilung überwunden hat, ja dass sie ihre alte große Geschichte, eine der großen und wichtigen Metropolen Europas zu sein, fortsetzen kann. Ich spüre hier die alte Mark, spüre Preußen, spüre das moderne Geistes- und Kulturleben des 18. und 19. Jahrhunderts, die demokratischen Gehversuche bis hin zum großartigen Experiment der Weimarer Republik, aber ich spüre auch den preußischen Militarismus, und die Machtergreifung der Nazis. Ich spüre den Krieg, seine Folgen und die Teilung der Stadt, ich höre innerlich immer wieder den Ruf von Ernst Reuter: „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“. Damit hatte er, der rechtlich gesehen Bürgermeister von Berlin war, faktisch aber nur von Westberlin, allen Berlinern aus dem Herzen gesprochen. Ja, er hatte wohl den Deutschen aus dem Herzen gesprochen.
Westberlin ist ein Teil von mir, obwohl ich bekennender Ost-Berliner bin. Es macht keinen Sinn, das zu leugnen, und nur noch Politik für das heute, für das jetzt zu machen, so wichtig diese politische Gegenwartsgestaltung ist.
Ich fahre nach Charlottenburg und freue mich an dessen Wohnvierteln, ich spüre am Savignyplatz eine Kultur, die teurer ist, als ich sie mir leisten kann, und die mir dennoch gefällt. Ich freue mich über Kreuzberg, und das sich entwickelnde Neukölln genauso wie Aufbruchtrends im Wedding und in Moabit. Für mich ist das mehr als Gentrifizierung, die es auch ist. Und ich liebe diese Innenstadt, in der ich lebe, mit ihrem alten Zentrum in Mitte, wo Mendelssohn, Nickolai, Paul Gerhardt und Hegel lebten. Dieses alte Kern-Berlin war durch die Aufteilung in die vier Besatzungszonen zu Ostberlin geworden, meine Heimat.
Westberlin hatte das alte historische Berlin nur in Randbereichen. Aber es hatte Charme, und den spürt man heute noch, auch wenn inzwischen schon lange die Post eher in den einzelnen Kiezen und alten Stadtbezirken abgeht, im Osten in Mitte, im Prenzlauer Berg, in Friedrichshain, bald vielleicht auch in Lichtenberg. Westberlin kann stolz sein auf diesen Charme. Es möge ihn sich bewahren.