Gedenkrede zum 17.Juni 1953 am 17.6.15 in Leipzig[1]
Stephan Hilsberg
Der 17.Juni 1953 gehört zu jenen Ereignissen, zu denen einem immer mehr einfällt – je länger man darüber nachdenkt.
Es gibt Zeitzeugen von diesen Tagen. Einer von ihnen wird nach mir direkt von seinen Erlebnissen berichten. Ich will, und kann vor allem dem gar nicht vorgreifen.
Es geht mir so, wie vermutlich vielen von Ihnen. Die wenigsten von uns haben den Volksaufstand, resp. Arbeiteraufstand in der DDR, dessen Höhepunkt – eben der 17.Juni – sich heute das 62.-te mal jährt, weder persönlich, vor allem nicht bewußt erlebt. Unsere Erinnerungen, Gedanken und vor allem Emotionen speisen sich aus anderen Quellen. Manche mündliche Überlieferung, Bücher, Filme und vor allem Bilder lieferten uns die Grundlagen für unsere eigenen Vorstellungen des Geschehens in jenen Tagen 1953.
Wir denken an die bleierne Schwere, die Angst und die Hoffnungslosigkeit in der damaligen DDR, an den staatlichen Terror, z.T. offen, häufig aber subtil ausgeübt gegen das eigene Volk - und zwar nicht nur in den 50-ger Jahren, damals aber gerade im Vorfeld des 17. Juni besonders brutal. Wir denken an die feste Hand Moskaus, das seinen Teil Deutschlands für immer behalten wollte, an die daraus folgende Teilung Deutschlands. Und wir denken an mutige Menschen, couragiert und aufopferungsvoll, die für ein paar Tage in ihrem Leben, ihrem Traum von Freiheit und Demokratie, von 1sinnvollen und würdevollem Leben ihre Stimme gaben, und sich und der ganzen Welt damit ein unüberhörbares Zeichen setzten – bis die sowjetischen Panzer und Divisionen ihrem Treiben ein blutiges, und wenn man so will erwartbares Ende bereiteten.
Und doch war die Welt danach nicht mehr die gleiche wie vorher.
62 Jahre ist das jetzt her. Es ist eine tolle, eine große Geschichte, die hier zu erzählen ist. Sie hat an Bedeutung nicht verloren, wenn sie sich auch heute nicht sofort erschließt. Denn den meisten unserer Mitbürger ist der damalige Zustand nicht gewärtig. Die Deutschen habens nicht so mit ihrer Geschichte. Sie ist ja auch kompliziert, belastet und voller Herausforderungen. Aber sie ist in Teilen eben auch großartig, und hat die Weltgeschichte durchaus bereichert. Und ihre freiheitlichen Traditionen zu pflegen lag natürlich nicht im Interesse der damaligen Machthaber in der DDR, ganz im Gegenteil. Und deshalb hat der Umstand, dass die Bedeutung des Volksaufstandes vom 17. Juni 53 heute kaum bewusst ist, in erster Linie mit deren Geschichtsklitterungen, Legenden und Drohungen zu tun.
Zudem die eigentliche Ursache dieses Aufstandes die Herrschaft der SED ja selber war.
Nicht nur, weil sie überzogen hatte. Doch das hatte sie eben auch. Dazu ein paar Daten:
Im Juli 1952 verkündete Walter Ulbricht auf der 2. Parteikonferenz der SED den "planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR". Das beinhaltete eine forcierte Militarisierung mit dem weiteren Ausbau der Staatssicherheit und der Kasernierten Volkspolizei, eine noch stärkere Politisierung der Justiz, die Schließung der Grenzen zur Bundesrepublik, die Abschaffung der vier Länder und Bildung von Bezirken sowie die beschleunigte Kollektivierung der Landwirtschaft.
Dadurch verschlechtert sich die Versorgungslage deutlich. Der Abbau von Preissubventionen führte zu Preissteigerungen. Es gab kaum noch Butter, Margarine, Fleisch, Gemüse und Zucker zu kaufen. Wie immer in diktatorischen und autoritären Staatssystemen wird dafür ein Sündenbock verantwortlich gemacht. Die SED läßt den Minister für Handel und Versorgung, Karl Hamann, wegen "bewusster Desorganisation" des staatlichen Handels von der Staatssicherheit verhaften. In mehreren Betrieben kommt es bereits im diesem Monat, ein halbes Jahr vor dem Juni 53 zu ersten Streiks.
Im darauf folgenden Frühjahr nehmen die Repression gegen politisch Andersdenkende und den Mittelstand zu, wird der ideologischer Anpassungsdruck auch in Schulen und Universitäten verstärkt. Der Kirchenkampf und die eskalierenden wirtschaftlichen Probleme führen zu einem dramatischen Anstieg der Flüchtlingszahlen, die im Frühjahr 1953 Höchstwerte erreichen. Im Spitzenmonat März sind es fast 60.000 Menschen, die aus der DDR fliehen.
Die massive Behinderung der Kirchen steigert sich zur regelrechten Verfolgung, die sich insbesondere gegen die "Junge Gemeinde" und die evangelischen Studentengemeinden richtet. Rund 50 Geistliche, Diakone und Laienhelfer werden verhaftet.
An der Mecklenburgischen Ostseeküste beginnt die Aktion "Rose". Innerhalb von vier Wochen werden 440 Hotels und Pensionen sowie 181 Gaststätten, Wohnhäuser und Wirtschaftsbetriebe beschlagnahmt. Unter den fadenscheinigsten Beschuldigungen werden 447 Personen festgenommen und zumeist zu Haftstrafen und Vermögenseinzug verurteilt.
Am 5.März 53 stirbt Stalin. Und Ulbricht erhöht den inneren Druck in der DDR.
Als die ev. Kirche am 21.April gegen den Kirchenkampf der SED und die Verfolgung ihrer Jungen Gemeinden und Studentengemeinden protestiert, erklärt eine Woche später das DDR-Innenministerium die Jungen Gemeinden zur Illegalen Vereinigung, und verbietet sie gemeinsam mit den Studentengemeinden. Relegationen, Exmatrikulationen und Verhaftungen sind die Folgen.
In der DDR wird die Stimmung in der Bevölkerung immer schlechter. Das kriegt sogar Moskau mit. Der sowjetische Innenminister und berüchtigte Chef der sowjetischen Staatssicherheit Berija fertigt Anfang Mai einen Bericht für das ZK-Präsidium der KPdSU an. In ihm wird für die angespannte Lage in der DDR auch der Zwang, den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften beizutreten, verantwortlich gemacht. Weitere Ursachen seien die Furcht vor der Abschaffung des Privateigentums und nicht zuletzt die Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern.
Doch blind gegenüber den Gefahren in die Ulbricht seinen eigenen Staat steuert, spricht sich das Zentralkomitee der SED auf seinem 13. Plenum Mitte Mai für eine generelle und bindende Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens zehn Prozent aus.
Daraufhin sieht sich die russische KP zum Handeln gezwungen und verlangt eine deutliche Rücknahme der Beschlüsse der SED zum Aufbau des Sozialismus. Doch Ulbricht weigert sich noch immer. Ende Mai stehen die Normerhöhungen im Neuen Deutschland. Und jetzt reicht es Moskau. Das hat kein Interesse an ostdeutschen Unruhen. Am 2. Juni 1953 werden Ulbricht und Grotewohl in Moskau einbestellt.
Sie erhalten die Auflage, die Krise in der DDR durch eine Revision des bisherigen politischen Kurses zu entschärfen.
Am 9.Juni übt das Politbüro der SED nun öffentlich Selbstkritik. Der "Neue Kurs" wird verkündet. Die Maßnahmen zum Aufbau des Sozialismus werden größtenteils zurückgenommen oder gelockert. Doch die erhöhten Arbeitsnormen bleiben bestehen.
War das Dummheit oder Dreistigkeit? Ulbricht war für seinen Starrsinn schließlich gut bekannt. Vermutlich hat Ulbricht versucht seine Bevölkerung und Moskau gleichzeitig zu täuschen. Immerhin, die harte Linie gegen die Kirche wird – vorerst zumindest – eingestellt. Aber ökonomisch hält Ulbricht an seinem Kurs fest und überreizt. Er ist nicht der Landesvater mit Gespür fürs Volk. Er ist der Diktator, der sich nicht vorstellen kann, dass sich sein Volk jemals gegen seine Herrschaftsmethoden erheben würde.
Denn sein Beharren auf der Erhöhung der Arbeitsnormen, bei gleichzeitigem Lockern des harten Kurses wird der Auslöser für die ersten Streiks des Juni-Aufstandes.
Die Arbeiter in der DDR kannten doch ihren Staat, und seinen Terror gegen die eigenen Leute. Gerade die Vorgeschichte des 17.Juni legt ja ein beredtes Zeugnis davon ab. Die Arbeiter hatten bestimmt nicht vor, ihre Haut zu Markte zu tragen, als sie sich zu diesen Streiks entschlossen. Märtyrer waren sie nicht, und von besonderen politischen Aktivitäten in den Reihen der Arbeiterschaft vor dem 17. Juni war auch nicht viel zu hören.
Doch sie hatten die Widersprüche zwischen SED und Moskau mitbekommen. Sie merkten, da stimmt etwas nicht im Regime. Sie hatten mitbekommen, dass Moskau die SED im Kreml einbestellt hatte, und dass danach plötzlich die SED selbst Selbstkritik übte. Plötzlich veränderte sich etwas. Bis wohin, das wußte kein Mensch. Aber eine Art Spielraum war zu spüren. Und in Berlin, das ist verbrieft, waren es genau diese Überlegungen, die auf einer bestimmten Baustelle, Block 40 der Stalin- Allee zu Streiküberlegungen und zu dem Versuch führte, mit Hilfe von Arbeitsniederlegungen die SED auch zu einer Rücknahme der verhassten Normerhöhungen zu bewegen.
Und diese Streiks lösen eine ungeheure Dynamik aus, die schließlich die gesamte DDR in einem riesengroßen Flächenbrand erfasst und für anderthalb Tage die kommunistischen Machthaber von der Bildfläche verschwinden.
Für diese Dynamik gibt es eine Schlüsselszene, deren Überlieferung einen westdeutschen Bundestagsabgeordneten, Prof. Franz Böhm (CDU) so beeindruckt hat, dass er sie zur Grundlage eines noch immer lesenswerten Rundfunkbeitrages aus dem Jahr 1954 gemacht hat, aus dem ich hier zitieren will. Und ich bitte vorab meine Leipziger Zuhörer um Verzeihung, dass diese Geschichte in Berlin spielt, wohl wissend, dass ich mich hier in der stolzen Stadt Leipzig befinde:
„Als die Bauarbeiter des Blocks 40 am Morgen des 16.Juni ihren Marsch antraten, da ging es zunächst noch allein um die Arbeitsnormen. Die Demonstranten führten ein Transparent mit, auf dem die Worte standen: ‚Wir fordern Herabsetzung der Normen.“
…….
„Gegen Mittag erreichte die Spitze des gewaltigen Zuges das Regierungsgebäude Ecke Wilhelm- und Leipzigerstrasse, die alte Trutzburg Hermann Görings. Das grosse Scherengitter vor Haupttor wurde niedergelassen und ersten Sprechchöre erschollen:
‚Wo sitzen unsere Volksvertreter?‘
Jetzt aber tritt eine Wendung ein, die den ganzen Charakter des bisherigen Geschehens verändert und die, gleichsam blitzartig, offenkundig macht, worum es an diesem 16.Juni eigentlich ging. Es war in den frühen Nachmittagsstunden, als endlich ein Regierungsvertreter, der Minister Selbmann, aus dem Gebäude zu den Demonstranten heraustrat, einen Tisch bestieg, und eine von Pfiffen, Gelächter und Zwischenrufen unterbrochene Ansprache hielt. Danach schien es, als sei ein toter Punkt erreicht; man kam nicht weiter. Aber bei solchen Ereignissen kann die Entwicklung nicht stillstehen. Die Bewegung war zu gross, zu aufsehenerregend, zu gewaltig geworden, als dass die Parole: ‚Wir fordern Herabsetzung der Normen!‘ noch ausgereicht hätte. Jeder einzelne unter den Tausenden und Abertausenden, die hier in der Wilhelmstraße versammelt waren und die Fensteröffnungen der Häuser anfüllten, wartete darauf , dass jetzt das erlösende Wort gesprochen würde; aber jeder wusste auch, dass die Sache bitterernst werden würde.
Es war ein etwa fünfzigjähriger Steinträger, der dieses Wort sprach. Er besteigt nach einigen anderen Rednern den Tisch, schiebt den Minister mit einer Handbewegung beiseite und spricht in die sofort eintretende Stille hinein die Sätze, die aus einem Streik um Arbeitsnormen ein politisches Ereignis grossen Stils gemacht haben, …….. . Die Worte sind uns erhalten geblieben. Sie lauten folgendermaßen: ‚Kollegen! Es geht hier nicht mehr um Normen und Preise, es geht um mehr. Hier stehen nicht allein die Bauarbeiter der Stalin-Allee, hier steht Berlin und die ganze Zone.‘ Um zum Minister Selbmann gewendet fährt er fort: ‚Was Du hier siehst, das ist eine Volkserhebung. Die Regierung muß aus ihren Fehlern die Konsequenzen ziehen. Wir fordern freie, geheime Wahlen!“
Es wird berichtet, welchen gewaltigen Eindruck diese Sätze auf die versammelten Massen gemacht haben. Ein unermesslicher Beifallssturm erhob sich.“
Wer sich noch an ähnliche Ereignisse aus der Zeit des Herbstes 1989 erinnern kann, und wer könnte das nicht, kann sich eine Vorstellung davon machen, was das für ein tosender Beifall tatsächlich gewesen sein wird.
„Die Fenster des Regierungsgebäudes schlossen sich, die Regierungsleute und Beamten traten in das Innere der Zimmer zurück. Die Parole des Steinträgers war, kaum gesprochen, die Parole des gesamten aufständischen Berlin, und am Abend, als die Rundfunksendungen kamen, die Parole der ganzen aufständischen Zone geworden.“
So oder ähnlich wird es gewesen sein. Es gab weitere Forderungen hier, Generalstreik wurde ausgerufen, der Rücktritt der Regierung verlangt. Die Arbeiter gingen aufs Ganze.
Was passierte hier?
Diese Geschichte vom Steinträger, die wenn nicht so passiert, so zumindest sehr gut erfunden, ist der Wendepunkt des Aufstandes vom 17.Juni. Durch ihn wird aus einem Arbeiteraufstand ein Volksaufstand. Ein Wunsch bricht sich Bahn, an den noch Tage vorher die wenigsten, der in der Leipziger Straße versammelten Teilnehmer irgendwelche Gedanken verschwendet hätten. Aber gleichzeitig ein Wunsch, der tief im Innern der Menschen gewohnt hat, und der nun zum Beherrschenden Gedanken wird.
Die Arbeiter waren sich in dieser Stunde mit Sicherheit ihrer Macht bewußt. Noch einen Tag vorher, werden sie jeden ausgelacht haben, der ihnen das vorhergesagt hätte.
Die SED war an diesem Tag handlungsunfähig. Vielleicht wollte sie auch nicht. Aber die Russen hatten sie gewarnt. Solch eine Revolte hätte nach allen machiavellischen Gesetzen im Keime erstickt werden müssen. Es ist ja bekannt, dass Moskau in diesen Tagen überlegt hat, Ulbricht in Berlin durch einen anderen zu ersetzen. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass Ulbricht durch diesen Aufstand gerettet wurde. Doch deshalb zu unterstellen, Ulbricht hätte für seine eigene Macht, diesen Aufstand in Kauf genommen, ist schon sehr weit hergeholt und wohl auch unrealistisch. Ulbricht war zutiefst entsetzt, und nach Augenzeugenberichten tief betroffen davon, dass sein Kalkül nicht aufgegangen war, dass die Menschen nicht taten, was er wollte, und dass er hier zur Sicherung seiner Macht auf die Truppen der Sowjetunion angewiesen war. Das spricht dagegen, dass er mit diesem Aufstand gerechnet hat. Auch die Russen konnten ihn nicht wollen. Vielleicht haben sie ihn anfangs laufen lassen, wie Böhm spekuliert. Doch spätestens mit dem Übergang in einen volksaufstand, mit seinen Forderungen nach freien Wahlen wird er ihnen gefährlich. Und noch am 16. Juni erfolgt die Mobilisierung der sowjetischen Truppen im Land. Nein, es gibt keine Hintermänner für diesen Aufstand, keine Verschwörer, die die Arbeiter instrumentalisierten. Sie handelten aus eigenem Antrieb. Und der muß uns hier interessieren.
Die Arbeiter werden nicht ausgeblendet haben, zu welchem Terror die kommunistischen Machthaber ihnen gegenüber in der Lage waren. Und doch hat die Angst sie nicht regiert. Hier zeigte sich noch etwas von der ehemals klassenbewußten Arbeiterschaft, stark geworden durch die alte Gewerkschaftsbewegung und ihre politischen Organisationserfahrungen. Man ging eben auf die Straße, wenn es notwendig wurde. Und hatte gut Erfahrung damit gemacht. Auch die Widerstandstradition kennt solche Momente zur Genüge. Und der Moment, wo der Steinträger auf dem Tisch den Minister beiseite schiebt, und den Leuten zuruft, hier geht es nicht mehr um Normen, hier geht es um mehr, um freihe Wahlen und Demokratie, da ist er ganz bei sich, da sagt er, was er denkt. Da kommt ein Traum zum Vorschein, an dem wir den tatsächlichen Charakter der Menschen damals erkennen können, ihre innere Identität.
Freie Wahlen waren schon immer das Synonym für politische Freiheit schlechthin. Und es ist ja bis heute das Geheimnis der Kraft unserer Demokratie, dass sie sich damit nicht nur den poitischen Wettbewerb zwischen den politischen Kräften Parteien organisiert, sondern dass sie damit auch die Grundrechte ihrer Bürger verbürgt.
Der Ruf nach freien Wahlen war der Ruf nach der Abschaffung des verhassten Regimes, dem Ende der SED-Herrschaft, und er hätte zweifelsohne damals schon in die Deutsche Einheit gemündet, wenn denn die Rote Armee das zugelassen hätte.
Ich gehe davon aus, dass dem Steinträger die Bedeutung seiner Parole, wie Böhm sie nennt, bewußt war. Er wollte das. Und er gewann die Demonstranten für sich. Sie wollten das auch.
In Deutschland hatte sich etwas verändert.
8 Jahre nach dem Ende eines verbrecherischen Krieges, nach einer Nazidiktatur die zwar in Deutschland auf demokratischem Wege an die Macht gekommen war, die hier bei einer Mehrheit der Bürger große Unterstützung gehabt hatte, war das keineswegs selbstverständlich. Die westdeutsche Demokratie war eine von den westlichen Besatzungsmächten verordnete, wenn auch, ich betone das immer wieder, von Anfang an getragen durch demokratische Grundeinstellungen bei einem Teil der westdeutschen Elite, von tiefer Überzeugung getragen und aus Gründen der Vernunft, bei einem anderen Teil das Ergebnis eines rationalen Pragmatismus. Denn man wußte ja, dass die Westalliierten keine anderen Staatsform Deutschlands zulassen würden.
Hier in Ostdeutschland war das anders. Auch hier in der DDR regierte eine Besatzungsmacht. Aber sie war bolschewistisch, stalinistisch, unbarmherzig. Und nie im Leben hätte Moskau etwas anderes als ein bolschewistisches System in ihrem Teil Deutschlands akzeptiert. Freiheiten, Rechtsstaat, Grundrechte hatten hier keine Chance. Deshalb konnten antidemokratische Stimmungen und Ressentiments hier leichter überleben als in Westdeutschland. Aber trotzdem rufen die Arbeiter 1953 nach freien Wahlen. Das war ein politisches Momentum, das die Weltöffentlichkeit wohl zu interpretieren verstand. Und natürlich auch die Amerikaner.
Ihre Sorge galt nach dem 2. Weltkrieg ja der vermeintlichen Gefahr, dass auch Westeuropa unter kommunistischen Einfluß kommen könnte, auf dem Wege freier Wahlen. So unrealistisch war das nach den harten Kriegsjahren und einer am Boden liegenden Wirtschaft schließlich nicht. Das genau war ja der Grund für den Marshall-Plan der USA, der ein wesentlicher Bestandteil der US-amerikanischen Containment-Politik war, also der Eindämmung des sowjetischen Einflusses auf das übrige Europa. Deshalb durften ja die Ostblockstaaten den Marshall-Plan nicht für sich und ihre Bürger nutzen, obwohl er auch ihnen angeboten worden war. Niemals hätte Moskau das zugelassen.
1953 war das westdeutsche Wirtschaftswunder schon ein paar Jahre alt. Es war eine reine Anschauungsfrage, die Überlegenheit der Marktwirtschaft gegenüber der sowjetischen Staatswirtschaft zu erkennen.
Gerade in Berlin wo eben noch keine Mauer stand, brauchte man mit der S-Bahn ja nur ein paar Stationen zu fahren, um am Zoo Zeuge voller Läden, bunter Geschäfte, eines frohen Treibens gewahr zu werden, während im Osten an ähnlicher Stelle Tristes herrschte.
Natürlich geht es den ostdeutschen Arbeitern auch um ihren Lebensstandard. Sonst hätten sie sich ja nicht gegen die Normerhöhungen gewehrt. Aber es geht ihnen auch um die Befreiung von einer verhassten politischen Kraft. Ob sie den Kommunisten ein besseres Wirtschaften nicht zutrauten, oder nicht gönnten, das wissen wir nicht. Ich habe für beides Verständnis. Die Arbeiter wollten die SED-Diktatur abschütteln. Sie wollten eine bessere Wirtschaft und Demokratie. Und Westdeutschland zeigte ihnen, dass das möglich war.
Beide Forderungen waren richtig. Ihre Realisierungschance Null.
Doch der Rufe, Slogans und Parolen des Aufstands waren in der Welt. Und da blieben sie als Anstoß für alle, die glaubten ihre Herrschaft dauerhaft mit Terror sichern zu können.
Gläubigen Kommunisten hingegen hätte es zu denken geben müssen, dass gerade Arbeiter gegen einen Arbeiter- und Bauernstaat aufstanden. Doch der Selbsttäuschung sind keine Grenzen gesetzt. Wer weiter an den Kommunismus glauben wollte, brauchte nur seine innere Verdrängungsmaschinerie anzuwerfen und stand wieder auf festem Boden. Und die Machttechniker unter den Kommunisten verstanden sich sowieso auf die Instrumentalisierung ihrer Ideologie zu Herrschaftszwecken.
Der SED als politischer Partei hingegen ist der Aufstand in die Glieder gefahren. Das Politbüro wurde in jenen Tagen von den Russen in Karlshorst einquartiert, wo sie in Sicherheit waren, eine demütigende Erfahrung. Die SED war nicht in der Lage mit Polizei und eigener Sicherheit die Lage unter Kontrolle zu bringen. Ihr mußte damals schmerzlich bewußt werden, wie sehr sie machtmäßig am Faden der Roten Armee hing. Ein Trauma war der 17. Juni für die SED. Bekannt ist, wie im Sommer 1989 Mielke seine Obristen fragt, ob es so sei, dass „morgen“ der 17. Juni ausbräche. Die SED hatte noch Angst vor einem Aufstand ihrer Bevölkerung, da wußten der geringste Teil davon kaum noch, was damals geschehen war.
Die SED hat versucht den Aufstand umzudeuten, ihn dem Westen unterzuschieben, und innenpolitisch zu tabuisieren.
Das ist ihr in weiten Teilen auch gelungen. In erster Linie durch harte Strafmaßmahmen gegen vermeintliche Rädelsführer. Der Aufstand sei ein Werk des westlichen Imperialismus gewesen, eine Linie, die die SED bis 1989 durchhält. Es gibt etliche Todesurteile. Die Staatssicherheit wird reorganisiert. Kampfgruppen werden gegründet. Die Bevölkerung wird stärker ins System eingebunden. Der offene Kirchenkampf wird aufgegeben.
Aber die SED schärft eben auch ihr Gespür für soziale Spannungen. Und die SU sorgt mit Wirtschaftshilfe für die DDR dafür, dass der Lebensstandard der Ostdeutschen steigt.
Die Ostdeutschen machen keinen neuen Aufstand. Was hätte das gebracht? Die Erfahrung der Niederlage wollte niemand wiederholen. Wer nicht wollte, konnte ja in den Westen gehen. Der Rest arrangierte sich. Das wurde nach dem Mauerbau noch viel schlimmer.
Waren aus mutigen Menschen plötzlich Duckmäuser geworden?
Das kann man so nicht sagen. Den meisten Ostdeutschen schien es vernünftiger zu sein, sich zu arrangieren. Es sind Ohnmachtserfahrungen, die sie dazu zu zwingen scheinen. Darüber können wir nur traurig sein.
Doch auf den Austand vom 17. Juni können wir stolz sein.
Er hatte Langzeitfolgen. Er hatte Zeugnis abgelegt von dem inneren Widerstand, einer anderen, unterdrückten Identität, einem nicht auslöschbaren Traum von Freiheit und besserem Leben unter den Ostdeutschen. Nicht zuletzt dem Traum von Deutscher Einheit, worunter damals schon die Teilhabe an den Erfolgen der Westdeutschen Gesellschaft zu verstehen war, ein Wunsch, der in jeder Hinsicht nachvollziehbar ist.
Der Aufstand vom 17.Juni steht in einer Reihe mit dem polnischen Partisanenkampf gegen die Kommunisten nach 1945, mit dem Ungarn-Aufstand von 1956 und mit dem Widerstand gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings.
Er zeigte den demokratisch verfassten Gesellschaften im Westen, wie sehr sich die Ostdeutschen. ja alle Menschen im kommunisitschen Machtbereich danach sehnten, die verhassten Herrschaftsverhältnisse abzuschütteln. Er war nach 1945 der erste Beweis dafür, dass die Kommunisten außer ihrem Terror nicht in der Lage waren, respektable Herrschaftsstrukturen in ihrem Teil Deutschlands zu errichten.
Jedem im Westen, aber auch im Osten war klar, dass das Schicksal Ostdeutschlands in Moskau entschieden wurde. Doch wenn die Ostdeutschen gekonnt hätten, wären sie schon 1953 demokratisch geworden. Das steht auf der Habenseite.
Für Franz Böhm, den ich vorhin zitiert hatte, ist dies mit die wichtigste Erkenntnis aus diesem Aufstand gewesen. Und damit war den politisch Kundigen in Westdeutschland klar, dass nichts die DDR so destabilisieren kann, wie der politische und wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik.
Und was ist seine Bedeutung heute ?
Zuerst mal muß daran erinnert werden, dass in diesen Zeiten, wo sich in unserem Land die Streiks häufen, und nicht selten Unmut in Zeitungen, Parteien und bei unseren Mitbürgern entsteht, weil die Bahn nicht kommt, die Kindergärten geschlossen sind, oder die Post nicht ausgetragen wird: Wir können froh sein, dass wir dieses Streikrecht haben und sollten es zur Gänze verteidigen. Und deshalb hoffe ich z.B., dass das kürzlich verabschiedete Tarifeinheitsgesetz vorm Bundesverfassungsgericht keinen Bestand hat. Statt dessen frage ich mich, was meine Sozialdemokraten in der Berliner Koalition da wohl geritten hat.
Und dann frage ich mich, was wohl die Streikführer von 1953 davon halten würden, wenn sie wüßten, dass heute ihre ehemaligen Unterdrücker fröhlich in Landesregierungen sitzen, sogar einen MP stellen, und sich auch sonst zunehmender Anerkennung erfreuen. Was ist da falsch gelaufen?
Und damit hier kein Beifall von der falschen Seite erschallt, frage ich mich gleich auch, wie es wohl kommt, dass ein ehemaliger Systemträger heute in diesem schönen Land Ministerpräsident sein kann, wo man ihm offenbar abnimmt, dass man an der Spitze des Rates von Kreisen im festen Bewußtsein einem Unrechtsstaat zu dienen, demokratisch überwintern konnte.
Ich bin im Zweifel, ob die Hoffnungen derer, die am 17.Juni vor 62 Jahren auf der Straße standen, tatsächlich eingelöst sind. Ich habe eine andere Vorstellung von demokratischer Kultur, als ich sie in weiten Teilen Ostdeutschlands erlebe.
Es ist vielleicht doch kein Zufall Erfurt, dass ausgerechnet heute, dem Jahrestag der Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR von 1953, die Stadt Erfurt die Wohnung von zwei anerkannten SED-Opfern räumen lässt.
Sicher, die meisten Ostdeutschen haben nach 1953 weiter ein angepasstes Leben geführt, wie gesagt, hat das etwas mit Ohnmacht zu tun. Immerhin gab es dann aber auch die friedliche Revolution von 1989, die diesmal erfolgreich den Umsturzversuch von 1953 vollenden konnte. Die Parrallelen von 1953 und 1989 sind evident. Auch 89 war die SED am Ende. Auch 89 entschied sich Moskau für eine andere Strategie, die die SED nicht nachvollzog, nicht nachvollziehen konnte. Auch 89 begriffen die Menschen, dass sich ihnen eine Riesenchance bot, die verhasste SED-Herrschaft loszuwerden, sonst hätten am 9.Oktober nicht plötzlich 90000 Menschen hier in Leipzig auf dem Ring demonstrieren können. Im Gegensatz zu 1953 gab es damals politische Kräfte in der DDR, die über demokratische Konzepte verfügten. Vor allem aber hatte sich 1989 Moskau für eine andere Strategie entschieden, was angesichts ihres ökonomischen und bankrotten Zustand auch nachvollziehbar war.
Doch die Erfahrung von 1989/90 relativiert die Ansichten über das scheinbar angepasste Verhalten der Ostdeutschen in den scheinbar so stabilen Jahren der SED-Herrschaft nur zum Teil. Es geht hier nicht nur um nüchternes, realistisches Abwarten. Auch dieses Bild ist schief.
Vermutlich liegt die Wahrheit in der Mitte.
Wer unter den Bedingungen einer scheinbar allmächtigen Diktatur leben muß, und das haben wir vor und nach 1953 und vor allem vor 1989, versucht vor allem zu überleben, und er versucht auch, ein Stück vom Lebensglück, das ihm vergönnt ist zu erhaschen. Das sollte niemand schlecht reden. Widerstand aber ist vor allem eine Frage der Kraft von Werten, wahrscheinlich auch des Glaubens und einer vernünftigen Langzeitperspektive. Mal ehrlich, wer verkörperte denn in der DDR eine realistische Langzeitperspektive? Die Zahlen sind nicht gerade legionär. Dass es sie trotzdem gab, und zwar sowohl 1953 wie auch 1989, gereicht uns Ostdeutschen zur Ehre. Aber es hätten schon ein paar mehr sein können.
Heute mag es leichter sein, vernünftige Perspektiven zu entwickeln. Doch eine große Strahlkraft bei jenen, die vorgeben sie zu haben, kann ich nicht entdecken. Statt dessen schießen populistische Parteien und Bewegungen ins Kraut wie die AfD oder Pegida, die von einem ganz anderen Mythos als Freiheit und Demokratie leben, die die Vernunft wahrlich nicht gepachtet haben, und die wie weiland die Enterprise uns ins vorvorige Jahrhundert beamen würden.
Für die Vernunft in unserem Land ist nicht nur die Politik verantwortlich, aber hier wird sie verhandelt.
Zum Schluß besteht auch die Politik nur aus Menschen, die versuchen, ihre Sache so gut es ihnen möglich ist, zu machen. Ob sie aber richtig liegen, müssen wir entscheiden, nicht nur in den regelmäßigen Wahlentscheidungen. Viel zu schnell sehen sich viele unserer Mitbürger in der Rolle des Opfers von Politik, als sich als ihre Urheber zu begreifen. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, steht im Grundgesetz, Art. 20, Absatz 2. So viele sind es nicht, die diesen Satz heute unterschreiben würden. Wer nicht mehr zu Wahlen geht, hat nicht das Gefühl mit seiner Stimme noch etwas zu bewegen. Das mag ungerecht sein, und ist trotzdem gesellschaftliche Realität.
Der Steinträger von der Leipziger Straße hat sich nicht als Opfer gesehen, sondern als Visionär und Überzeugungstäter. Die Deutsche Nachkriegsgeschichte wäre anders verlaufen, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Wir können dankbar sein für seinen Mut, seine Courage und seine Hellsichtigkeit. Und das gilt für seine Mitkämpfer genauso, wie allen, die sich damals auf die Straße gewagt haben. Vor ihnen dürfen und wollen wir uns verneigen – in Respekt und in Dankbarkeit.
Wir haben heute neue und andere Aufgaben. Aber die Haltung, mit der wir sie ausführen, sollte sich an jenen vom 17. Juni orientieren, an ihrer Courage, an ihrem Mut, an ihrer Sehnsucht nach Freiheit, an ihrer Konfliktbereitschaft und ihrer Vision von einem Leben in Würde für uns und alle unsere Mitbürger.
[1] Quellen: Ehrhard Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR;
Wikipedia-Eintrag: Aufstand des 17. Juni;
Prof.Franz Böhm, Radioansprache 17.Juni 1954