Wem wir zu danken haben

Eine ungehaltene Volkskammer-Rede im 30. Jahr ihrer Schließung

10.Juni 2020

 

Wer hätte das für möglich gehalten, dass die Volkskammer einmal die Träume so vieler Menschen, der überwältigend großen Mehrheit der Bevölkerung der DDR erfüllen würde; und eben nicht nur die Interessen der SED und ihrer Diktatur in Gesetztestexte gießen würde. Die SED selber bestimmt nicht, die Bürger der DDR sicher auch nicht, und Westdeutschland schon gar nicht. 

 

Wenn man auch nicht sagen kann und sagen sollte, dass die Deutsche Einheit alle Wünsche der Ostdeutschen erfüllen würde, weil man sie damit überfrachtet und überfordert, so wird sie doch unzweifelhaft zu den glücklichsten Stunden der deutschen Geschichte gezählt werden. Sie führt unser Land zurück in den Kreis der europäischen Nationalstaaten, in die internationale Partnerschaft zu allen anderen Ländern dieser Erde, gleichberechtigt und wieder souverän, so wie vor der Machtergreifung der Nazis. Sie ist neben vielem auch ein Akt des Vergebens und des Vertrauens unserer europäischen Nachbarn und der ehemaligen Siegermächte des 2. Weltkrieges, in das unser Land die Welt gestürzt hat. Ein Krieg, wie es ihn vorher nie gegeben hatte, so schrecklich, so mörderisch, so ideologisch, so rassistisch und antisemitisch, so genozidal und so flächenbrandmässig, wie er geführt wurde. Und, daran müssen wir uns immer wieder erinnern, daran werden uns die anderen Völker auch immer wieder erinnern; Deutschland hat diesen Krieg gewollt, und es hat ihn vom Zaum gebrochen. Und so viel Unrecht, Tod und Leiden es über Europa und andere Kontinente damit gebracht hat, so hat es auch dafür bezahlt. Nicht nur mit dem Verlust der eigenen Staatlichkeit, dem Verlust weiter Gebiete, sondern auch mit seiner Teilung und Spaltung, mit dem Verlust seiner Souveränität, dem Verlust der Selbstbestimmung und 40 Jahren Diktatur in einem seinem östlichen Teil, der DDR; diesmal nach der nationalsozialistischen, die das ganze Deutschland erfasst hatte, einer kommunistischen Diktatur, die aber auch das Kennzeichen einer Besatzungsdiktatur trug. Diese Zeit ist mit der friedlichen Revolution zu Ende gegangen. Jetzt wird sie sie besiegelt. Nachdem Mauer und Stacheldraht beseitigt wurde, nachdem die Kommunisten entmachtet wurden, können wir wieder zu einer staatlichen Einheit finden, gemeinsam unser Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat organisieren. 45 Jahre nach Kriegsende. 

 

Wer hatte unter uns Deutschen, auch unter uns Ostdeutschen die Hoffnung daran nicht schon aufgegeben, ja verdrängt, vergessen, verunglimpft, tabuisiert, geradezu verboten? 

Dass wir sie jetzt organisieren können, das verdanken wir sicher einer in weiten Teilen, weisen Politik der Demokratie in der alten Bundesrepublik, der Entspannungspolitik, der Politik der Wiedergutmachung; aber auch einer schonungslosen Aufarbeitungspolitik der Verbrechen des Nationalsozialismus, der sich ja nicht nur gegen die Menschen außerhalb Deutschlands wandte, sondern zuerst gegen all jene in Deutschland, die hier für Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung, ja die ganzen Werte der Moderne, Aufklärung, individuelle Selbstbestimmung eintraten. Aber vor allem verdanken wir dies einer Abkehr vom Expansionsstreben eines ganzen Weltreiches, seinem Bruch mit einer jahrhundertelangen imperialen Politik. Und nicht zuletzt verdanken wir das den Menschen in der DDR, die, so wenig sie auch waren, die sich im Gegensatz zu vielen ihrer Mitbürger nie mit dem Unrecht in der DDR abgefunden hatten, die sich nicht damit arrangiert hatten, sondern die Freiheit und Demokratie auch in der DDR für möglich gehalten haben, und darauf versuchten hin zu arbeiten. 

 

Der erste und wichtigste Umbruch für das Ende der SED fand in Moskau statt, jener Stadt, in der die Weichen für das Schicksal Ostdeutschlands nach dem Krieg gestellt wurden. Hier war ein neuer Generalsekretär am Werk: Gorbatschow, dem wir Deutschen nicht genug dankbar sein können, für den Paradigmenwechsel, den er an der Spitze eines Imperiums vollzog: Das erstemal in der Geschichte der Menschheit zog sich ein Imperium aus freien Stücken aus den Gebieten seiner eigenen Eroberungen zurück. Das haben viele Russen nicht verstanden, das hat aber auch nicht jeder westliche Politiker verstanden. Viele wurden nicht müde, dies als Krisensymptom zu deuten, als Zeichen der Schwäche, als undurchdacht, unlogisch und nicht im Interesse der Sowjetunion liegend. Doch nichts ist falscher als das. 

 

Denn natürlich, Gorbatschow fand sein Land 1985 als er oberster Chef der SU wurde in einer tiefen Krise befindend vor. Und er spielte diese Krise durch, und kam zu dem Schluss, dass Russland so nicht weitermachen kann, denn dann würde es zerfallen, und großen Schaden nehmen. Den wollte er abwenden, indem er seinem Land neue Kraftquelllen erschloss. Da war zuerst die Demokratisierung des eigenen Landes inclusive Pressefreiheit, dann die Einführung von Marktwirtschaft, dann ein Bekenntnis zu partnerschaftlichen Beziehungen zu den anderen Ländern dieser Erde, allen voran den westlichen, also westeuropäischen und den USA. Denn nur in der Partnerschaft liegt der Schlüssel für Frieden und Entwicklung, nicht in Gewalt und Expansion. Gorbatschow schwor der Gewalt in den internationalen Beziehungen ab, weil Gewalt Partnerschaft verhindert, statt sie zu ermöglichen, weil sie zu unermesslichen Folgekosten führt, an denen ein Imperium ersticken muss, weil auf lange Sicht der Kampf um Vorherrschaft, um Expansion die Ressourcen, die wir dringend zur Lösung unserer Zukunftsaufgaben brauchen, so sehr bindet, dass für letztere keine Mittel mehr zu Verfügung stehen, so dass wir an den unerledigten Zukunftsaufgaben zu Grunde gehen. Und so war es logisch, dass Gorbatschow auch den Kalten Krieg beendete. So begann er die eigenen Atomraketen zu zerstören, er zog seine Landstreitkräfte aus Osteuropa ab. Im Grunde setzte er die Prinzipien von KSZE das erste Mal für die SU in die Rechtswirklichkeit um. Aus Propaganda machte er echte Politik. Gorbatschow veränderte die Welt. 

Heute gibt es Stimmen, die sehen in dieser neuen Politik lediglich einen Sieg des Westens im Kalten Krieg. Die übersehen, dass Gorbatschow auch anders gekonnt hätte. Nennen wir es beim Namen: Gorbatschow folgte der Stimme der Vernunft. Das mag mit seinem Charakter, seiner Menschlichkeit und seiner Bildung zu tun gehabt haben. Aber man darf nicht vergessen, er und seine Mitstreiter im Kreml, das waren einst Kommunisten gewesen. Doch sie schmissen ihre Ideologie über Bord, sie krempelten den Laden um, weil sie festgestellt hatten, dass ein Festhalten am stalinistischen, ja leninistischen oder bolschewistischen Kurs der SU eben zur Zerstörung dieser SU und damit Russlands führten musste, so zwangsläufig wie das Wasser die Wolga hinunterfliesst. Und ihr neuer Kurs stand im Zeichen der Moderne, der Menschenrechte, der Demokratie, der internationalen Partnerschaft, so wie es in den Vereinbarungen von Helsinki festgehalten ist. 

 

Gorbatschow ist der erste Imperator gewesen, der diesen Kurswechsel in Friedenszeiten vollzog, unter Druck zwar, aber nicht unter Zwang einer Kapitulation, sondern aus freien Stücken. Er hat damit international dem Prinzip von Gewaltlosigkeit und Partnerschaft ein Zeichen gesetzt, das nie wieder aus der Geschichte der Menschheit gelöscht werden kann. Und das hat die Landkarte Europas verändert, das hat uns die Befreiung von der kommunistischen SED-Diktatur ermöglicht, und das ermöglicht uns jetzt den Vollzug der Deutschen Einheit. 

 

Die zweite Voraussetzung für die Deutsche Einheit ist die Friedensbewegung, die oppositionelle Bewegung in der DDR gewesen. Denn der Schlüssel für die Entmachtung der SED lag nicht in Westdeutschland oder in den USA. Wir sind auch nicht Polen, wo der Besuch eines Papstes ein ganzes Volk motivieren kann. Wir sind nicht Moskau, dass über Milliarden von Menschen entschieden hat. Wir sind ein deutscher Teilstaat, ohne Selbstbestimmung, ohne Souveränität, dessen Macht von den Spitzen der Bajonette der Roten Armee getragen wurde. Diese SED, nachdem sie nun durch Gorbatschows Politik ihr Machtfundament verlor, agierte zunehmend wie ein Papiertiger. Doch die einzigen die sie in Frage stellten, war diese Friedensbewegung in der DDR. Sie drängte an die Öffentlichkeit, sie stellte die Fragen nach der Zukunft, sie demonstrierte, sie diskutierte und organisierte, sie handelte politisch, während sich alle anderen Kräfte noch immer an der Macht der SED orientierten, deren Macht aber vor unser aller Augen wie Sand zerrann. Die Frage warum das so war, ist interessant und muss beantwortet werden, weil sonst wieder in nicht allzu langer Zeit die Geschichtsfälscher die politische Bühne betreten werden, und nur die Irrungen und Wirrungen dieser Opposition benennen werden, um sie klein zu machen, unwichtig, unbedeutend. Aber diese Frage muss nicht hier beantwortet werden. Hier muss nur benannt werden, dass es die Opposition war, die den Menschen in der DDR die Barrikaden baute, auf denen sie die SED-Diktatur in die Knie zwang. Denn nachdem Gorbatschow seinen osteuropäischen einstmaligen Satellitenstaaten die Selbstbestimmung einräumte, hatten wir plötzlich nicht mehr mit der Roten Armee zu tun, sondern „nur“ noch mit der Macht der SED. Und die zu stürzen, das lag im Bereich des Möglichen. Und jetzt frage ich Sie, meinen Damen und Herren, wer hat außerhalb der Opposition in der DDR so gesehen? Die technische Intelligenz in der DDR?, Ihre einstmals bürgerlichen Schichten, gar die Mitglieder der SED selbst, oder die Repräsentanten der beiden großen Kirchen, oder jemand im Politbüro, oder diese kleine harmlose Gruppe der sogenannten Reformer der SED? Wenn sie es gesehen hätten, dann hätten sie nicht nur aktiv werden können, sondern auch müssen! Dann wäre es ihre Pflicht gewesen aus der SED auszutreten, und eine neue Partei ins Leben zu rufen, die das Ende der SED und der DDR einläuten würde. Doch so etwas gab es nicht, und warum es das nicht gab, wird auch eine Frage sein, die wir in Zukunft beantworten müssen, um jenen Geschichtsfälschern das Handwerk zu legen, die so tun, als hätte es in der SED Kräfte gegeben, die schon immer Reformen in der DDR wollten. 

 

Nein, die Aufgabe, eine Partei zu gründen, die die Entmachtung der SED anpeilt, den Sturz ihrer Diktatur zum Ziel erklärt, und die sich in jeder Hinsicht den Prinzipien der Moderne verpflichtet hatte, wurde nicht aus der SED heraus gegründet. Sie wurde aus Mitgliedern der Friedensbewegung, der Opposition in der DDR gegründet. Es war die ostdeutsche Sozialdemokratie, die das Programm und das Konzept für die Demokratisierung der DDR lieferte. Mehr will ich gar nicht dazu sagen, das gehört nicht an diese Stelle, aber es muss gesagt werden, weil es sonst niemand anderes tun wird. All die anderen Parteien, vornehmlich Blockparteien der alten DDR haben sich diesem Konzept angeschlossen, wenn auch mehr in Taten als in Worten, und selbst die SED hat das getan. 

 

Und natürlich lag die Deutsche Einheit in der Luft, spätestens mit der Maueröffnung konnte das nun wirklich jedem klar sein. Denn was sollte denn die Staatsidee eines ostdeutschen Staates sein, der nur auf Grund des Kalten Krieges, und in Folge des 2. Weltkrieges gegründet war? Dass er existierte war eben nicht nur eine Folge des Kalten Krieges, sondern auch der großen Schuld, die Deutschland mit seinem Nationalsozialismus, seinen Genoziden und seinem 2. Weltkrieg auf sich geladen hatte. Aber das bedeutete eben nicht, dass die DDR ewig bestehen musste, erst recht nicht unter demokratischen Bedingungen und einer ehemaligen Besatzungsmacht, die ihre Vasallen in die Selbstbestimmung entlassen hatte. 

 

Auf Schuld lässt sich keine Zukunft aufbauen. Aber auf Vergebung, und auf die Bitte um Vergebung. 

 

Dass unsere europäischen Nachbarn, dass die Sowjetunion, und die westlichen Alliierten Deutschland die Rückkehr in staatliche Normalität, in Selbstbestimmung und staatliche Souveränität gestatten würden, das war alles andere als selbstverständlich und das muss die eigentliche Quelle unserer Dankbarkeit sein. Dass das die ehemaligen Alliierten taten, hat viel mit der Friedens- und Wiedergutmachungspolitik der alten Bundesrepublik zu tun, an der besonders die Entspannungspolitik hervorzuheben ist. Aber es hat auch mit der in Deutschland bis dato nicht so kulturvierten Aufarbeitung der eigenen schuldhaften Vergangenheit zu tun. Und es hat mit dem Verlauf, der Zivilisiertheit und Gewaltlosigkeit der friedlichen Revolution in der DDR zu tun, die Maßstäbe gesetzt hat, aber die sich auch an jahrhundertealten Werten orientieren konnte, und an der Bewegung der Gewaltlosigkeit wie sie in Indien praktiziert wurde, oder aber auch der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung  von Martin Luther King. Wer für seine Rechte kämpft, der braucht dafür kein Schießeisen in der Hand. Im Gegenteil. Eine gewaltsame Revolution wäre nicht erfolgreich gewesen. 

 

Dass, was in der DDR passierte 1989, das konnten die westdeutschen Gründereltern des Grundgesetztes in dieser Form nicht vorhersehen. Ihr Anspruch für die Deutschen mit zu handeln, denen das eigene selbstbestimmte Handeln versagt ist, machte an der realen innerdeutschen Grenze halt. Ohne die friedliche Revolution in der DDR könnten wir uns nicht an die Deutsche Einheit machen. Und schon deshalb ist es falsch so zu tun, als wäre die Deutsche Einheit die Mutter aller Problemlösungen für die DDR. 

Der grosse Einfluss den die alte Bundesrepublik immer auf die Gesellschaft der DDR ausgeübt hat, ihre wirtschaftliche Stärke, ihre demokratische Stabilität und Kultur, ihre technologische und wissenschaftliche Leistungsfähigkeit ist verführerisch sowohl für die westdeutschen Eliten, wie auch viele Menschen in der DDR. Doch man darf nie vergessen, dass die Schwäche der ostdeutschen Gesellschaft eine Folge der von allen Deutschen gemeinsam zu verantwortenden Geschichte ist. 

 

Aber natürlich, spätestens mit dem Fall der Mauer musste auch dem letzten klar geworden sein, dass das Schicksal der DDR aufs engste mit der der alten Bundesrepublik, ihren Institutionen und Machtstrukturen verbunden ist. Als ostdeutscher ehemaligen Oppositioneller muss man das erst mal begreifen. Der ganze Verlauf der friedlichen Revolution ist nicht erklärbar, ohne den starken Einfluss, den Bonn versucht hat auf ihn auszuüben. Und in diesem Spannungsverhältnis die friedliche Revolution über den Runden Tisch bis hin zu den ersten freien Wahlen geführt zu haben, auch das bleibt ein unauslöschliches Verdienst der Opposition der DDR. 

 

Die Dominanz der westdeutschen Strukturen kann schnell in vormundschaftliches Verhalten umschlagen. Und sie wird das tun, denn das ist ja sofort erkennbar geworden. Und ob die westdeutschen Institutionen und Eliten, wenn sie denn jetzt nach Ostdeutschland kommen um hier die demokratischen, wirtschaftlichen und staatlichen Strukturen mit aufzubauen, sich dem immer bewusst sein werden, das kann zu Recht bezweifelt werden. Der liebe Gott hat Weitblick und Weisheit leider nur spärlich gesät. Und auch die westdeutsche bürgerliche Gesellschaft, bei allem Vorbildcharakter, den sie auf uns Ostdeutsche ausübt, sie ist eben kein Paradies, auch sie hat ihre Verwerfungen, und moralischen Abgründe. Jetzt mag sie noch hell leuchten, doch ihre Schatten sind heute schon sichtbar. 

 

Doch wir werden uns nicht kirre machen lassen. Die Deutsche Einheit ist richtig, und wir werden sie meistern, ganz gleich, welche Reibungsverluste sie mit sich bringen mag. Es ist das Beste, was uns Deutschen heute passieren konnte. 

 

Und wir Ostdeutschen können stolz darauf sein, dass es uns gelungen ist, den Schlüssel für unsere Freiheit und die wieder gewonnene Deutsche Einheit selber gefunden und benutzt haben. 

 

Dieser Text entstand auf Anregung der Bundeszentrale für Politische Bildung, die eine Veranstaltung zu 30 Jahren frei gewählte Volkskammer plant und dafür um einen Text bat unter dem Thema:

 

Vor 30 Jahren - die erste freie Volkskammer der DDR:

Ihre Gedanken zur Lage der Nation.

Eine Anfrage der Redaktion Deutschland Archiv

der Bundeszentrale für politische Bildung.