Politischer Reformationstag der sächsischen SPD Leipzig, 31.10.09
Es gibt in der Gesellschaft im allgemeinen und in der Politik im speziellen, viele Anlässe Reden zu halten.
Richtig daran ist: Politik ohne Reden ist erstens gar nicht möglich, zweitens viel zu autoritär.
Richtig ist aber auch, dass viele Reden gehalten werden, die anzuhören, nicht unbedingt ein Vergnügen ist. Wobei ich natürlich hoffe, nicht in diese Kategorie gezählt zu werden.
Und es gibt Anlässe zu politischen Reden, wie z.B. den politischen Aschermittwoch, die die Redner verleiten ihr rhetorisches Florett, wenn sie es denn besitzen, gegen ein Art Keule einzutauschen, worüber das Publikum sich zwar zunächst amüsiert, aber hinterher häufig den Kopf schüttelt.
Und es gibt kühne Anlässe.
Mit politischen Reden der Geburtsstunde der Reformation in Deutschland, einem immerhin welthistorischem Ereignis zu gedenken, das ist kühn – und ehrt seine Erfinder.
Und deshalb freue ich mich über die Ehre, hier heute vor ihnen in verknüpfender Weise die Reformation einerseits und den politischen Reformbedarf andererseits präsentieren zu dürfen.
Aber, meine Damen und Herren, ich habe nicht vor mich zu überheben.
Es lohnt sich, der Bedeutung, aber vor allem den Gedanken der protestantischen Reformation heute vor über 500 Jahren nachzugehen, gerade um sie für unsere eigene Politik heute fruchtbar zu machen. Es lohnt sich insbesondere für die SPD, weil sie sich von jeher bemühte, eine Gesellschaft lebenswerter zu machen, weil sie schon immer Menschenwürde und Gleichberechtigung in ihren Mittelpunkt gestellt hat.
Sie war stark, wenn ihr das gelang, und schwach, wenn es ihr nicht mehr gelang, diese Werte überzeugend zu vertreten. Ich will mich nicht über ihren gegenwärtigen Zustand auslassen. Jeder kennt ihn. Viele wünschen sich, dass sie wieder zu alter Stärke zurückfindet. Doch ringen wir um die Frage, wie das zu schaffen sei.
Und deshalb lohnt ein Blick in jene atemberaubende Schwelle zur Neuzeit, in der Luther, der grosse Reformator heute vor 492 Jahren unweit von hier im damals kursächsischen Wittenberg sein Konzept der Reform seiner Kirche der staunenden Öffentlichkeit präsentierte.
Luther war deutsch. Er entstammte einer Bergmannsfamilie, und kam damit aus dem 3. Stand, derjenigen sozialen Schicht, die ihr Geld und Brot durch Arbeit verdienen musste, heute würde man sagen der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft.
Man hört immer wieder, dass diese Zeit von einem tiefen christlichen Glauben erfüllt gewesen sei, und dass obwohl ihr die damalige katholische Kirche viel zugemutet hat. Sie hat Praktiken an den Tag gelegt, die geeignet waren, den Menschen den Glauben auszutreiben. Dazu gehörte der Ablass, die Ununterscheidbarkeit geistlicher und weltlicher Macht, die grausame Anwendung militärischer Machtmittel in den Händen von Bischöfen oder Kardinälen, maßlose Privilegien von geistlichen Würdenträgern, sowie das ausufernde und mit keinen christlichen Werten in Übereinstimmung zu bringenden Leben der Päpste in Rom. Und deshalb bin ich gar nicht so sicher, dass die Gesamtheit der Menschen wirklich tief geglaubt hat. Sicher davon hat es bestimmt einige, vielleicht sogar viele gegeben. Aber der Zweifel an dieser Kirche muss sehr tief gesessen haben, sonst hätte es gar keine Reformation geben können.
Und es ist ja eine auch heute bekannte Erfahrung, dass die Strahlkraft von Werten weit grösser ist, als die Institutionen, die sie zu vertreten haben.
Die Widersprüche zwischen christlichen Werten und kirchlichem Leben hatten das gesamte Mittelalter hindurch ganze Generationen von Theologen und Ordensbrüdern nach Erneuerung und Wiederbelebung ihres christlichen Glaubens suchen lassen.
Das Suchen war zu Luthers Zeiten also nicht neu. Es ist kein Wunder, dass Luther als er in sein Kloster in Erfurt eintrat, ein junger Mann von 21 – 22 Jahren, in eine Athmosspäre des Zweifels und des Suchens hineinkam, aber nicht auf der reinen gefühlsmässigen Ebene allein, sondern theologisch, bzw. wissenschaftlich, auf alle Fälle intellektuell.
Und das ist das erste, was wichtig ist, auch heute. Gefühle sind wichtig, sie zu ignorieren, oder gar zu unterdrücken, ist fahrlässig. Das tut unsere Zeit auch nicht mehr. Doch die Gefühle allein sind es nicht. Sie zeigen nur an, annoncieren, laden zum Nachdenken ein. Doch das müssen wir dann auch tun, wenn wir sie verstehen wollen. Das ist unsere, besondere, menschliche Fähigkeit, die des Verstandes, in Verbindung mit der Freiheit zu Denken, auch die der Vernunft. Und erst dann sind wir in der Lage den Ursachen unseres Unmutes nachzuspüren und nach tragfähigen Antworten zu suchen. Erst dann wird übrigens erst ein echter Diskurs möglich, den wir in der Demokratie dringend brauchen.
Es reicht eben nicht aus, den Gefühlen, eigenen oder fremden, gar dem Bauchgefühl einer breiten Menschenmenge zu folgen, sondern man muss die Gefühlslagen und Stimmungen übersetzen, sie rational machen. Ich muss meinen eigenen Gefühlen auf den Grund gehen, und ich muss mich mit den Gefühlen meiner Mitbürger auseinandersetzen, wenn ich in der Politik etwas bewegen will. Das kann ich nur, wenn ich meine eigenen intellektuellen Fähigkeiten bilde.
Das ist leichter als es sich anhört.
Wir sind ja hier in der Stadt von August Bebel. Der verlor schon früh in seiner Kindheit erst den Vater, dann die Mutter, und konnte mangels finanzieller Unterstützung nicht Bergbau studieren, was er gerne wollte. Er besuchte die Volksschule und wurde dann Drechsler, wenn auch ohne Begeisterung. Das sind für eine intellektuelle Karriere nicht die besten Voraussetzungen. Und doch ist A.Bebel einer der grössten Vorsitzenden seiner Partei geworden. Er war ein brillanter, und mutiger Parlamentarier und er setzte sich auch theoretisch mit den Fragen seiner Zeit auseinander. Manches ist bis heute lesenswert. Das war ihm nicht in die Wiege gelegt.
Auch Bebel kämpfte auf der intellektuellen Ebene, allerdings nicht trocken. Er setzte seine Gefühle schon ein, aber er liess sich nicht von ihnen leiten.
Manche unserer politischen Mitbürger hingegen wollen das gar nicht. Sie machen Politik einzig und allein auf der Gefühlsebene. Sie appellieren nur an den Bauch. Sie erzeugen Gefühle wie Hass, Ressentiments, z.T. ganz bewusst. Sie nutzen die Gefühlsebene der Menschen für ihre eigenen politischen Ambitionen hemmungslos aus. Doch für die Politik bleibt eines dabei auf der Strecke, die Aufklärung.
So werden durch dieses Vorgehen Menschen nur benutzt, nur instrumentalisiert, aber nicht nach vorne gebracht.
Luther hat das nicht gemacht.
Ihm ging es gar nicht um Macht. Ihm ging es um das Verhältnis des Christen zu Gott.
Keine Sorge, ich werde jetzt keine Predigt halten. Aber um ihn und sein revolutionäres Wirken zu verstehen muss man sich ein wenig in ihn hineindenken.
Er hat keine Zeitenwende einleiten wollen. Er wollte auch keine neuen Werte schaffen. Vielmehr hat er alte Werte neu zum strahlen gebracht. Er hat die alten damals ja bereits über tausend Jahre alten christlichen Werte wieder aufgegriffen und sie in das Zentrum seiner Theologie gerückt.
So hat er die schriftliche Überlieferung des Christentums, das alte und neue Testament, also die Bibel wiederentdeckt und erklärt: Ihr Wort gilt und nicht die kirchliche oder päpstliche Dogmatik.
Und er hat in der Bibel keinen Beleg für die besondere Bedeutung der Heiligen, oder der Reliqiuien gefunden und kurzerhand erklärt: Dann haben sie auch keine Bedeutung. Kurz er hat sie abgeschafft.
Er hat in der Bibel auch nicht gefunden, dass die Sündenvergebung, immerhin das Zentrum des christlichen Glaubens an irgendwelche Zahlungen wie Ablass oder dergleichen (Sie kennen ja alle noch den Spruch des Ablasshändler Tetzel: „Die Seele in den Himmel springt, wenn das Geld im Kasten klingt!“) geknüpft sei. Und deshalb hat er den Ablasshandel abgeschafft.
In der Bibel steht nicht, dass Pfarrer oder Priester nicht heiraten dürfen. Also hat Luther das Zölibat für überflüssig erklärt.
Aber der Kern seiner Botschaft ist die Unmittelbarkeit der Christen zu ihrem Gott, ohne Mittelsleute, ohne Umweg, direkt und unmittelbar. Diese Lehre hat die Menschen frei gemacht.
Diese Beispiele liessen sich fortsetzen. Es ist immer das gleiche Muster. Luther hat zurückgefunden zu den Werten die im Zentrum des christlichen Glaubens stehen, und dadurch den Glauben seiner Zeit neu belebt, oder wie wir heute sagen erneuert. Es ging ihm nicht um die Kirche, es ging ihm um den Glauben, und damit ging es ihm um die Menschen, die in seinen Augen christlich leben wollen.
Er hat neues geschaffen, indem er die traditionellen Werte wiederentdeckt und wieder ins Zentrum des Handelns gerückt, gewissermassen zurechtgerückt hat.
Ein interessanter Vorgang.
Da reformiert jemand, wälzt um, revolutioniert, denn das war ja die Reformation und doch ging es ihm gar nicht um Revolution, sondern um Erneuerung. Was war er nun, konservativ oder modern ? Wahrscheinlich beides. Und wahrscheinlich lässt sich das gar nicht so einfach trennen, wie wir es immer tun.
Der grosse zeitgenössische Historiker Heinrich – August Winkler hat mal darauf hingewiesen, dass auch die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung auf der Wiederbelebung alter Werte beruhte, nämlich auf die Zusage von Glaubensfreiheit der britischen Krone gegenüber dem britischen Volke, die aber von der Krone nicht eingehalten wurde. Und dann sind die Pietisten und Quäker ausgewandert in die amerikanischen Kolonien um hier ihren Glauben leben zu können. Und das bedeutete, dass sie die Freiheit zu leben, wie sie es für richtig hielten, denn nichts anderes heisst Glaubensfreiheit, in der Verfassung ihrer Gesellschaft garantiert sehen wollten. Und deshalb ist genau dieser Wunsch zu einem zentralen Motiv der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung geworden. Auch hier sind also alte Verheissungen, oder soll man sagen, Sehnsüchte der Menschen, die sie schon von altersher hatten, in einer gewaltigen Erneuerung, ja gar in einem neuen Staat manifest geworden.
Und auch die Grundwerte der Grossen Französischen Revolution „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit!“ fussen auf alten Sehnsüchten, die gewissermassen zeitlos sind, und jederzeit neue Stärke erlangen können.
Und ist es nicht auch so mit der Geschichte der sozialen Demokratie, eben der Sozialdemokratie, dass sie alte Sehnsüchte, die doch an Aktualität nicht zu überbieten waren und sind, neu zum Klingen gebracht hat ?
Wie heissen unsere Werte doch gleich ? Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit!
Sie heissen nicht: Angst, Skeptizismus, Sicherheit. Sie heissen nicht Antikapitalismus, staatliche Rundumversorgung oder Technikfeindlichkeit. Sie heissen nicht Resignation, Mutlosigkeit und Enttäuschung.
Sondern sie heissen Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Sie sind weit und offen und weisen uns einen Weg, wie wir in unserer Gesellschaft zusammenleben können und was wir tun sollen, und was wir sind.
Dabei ist die Freiheit für mich das Grösste innerhalb dieser drei Grundwerte. Denn das ist die Verheissung, dass jeder so leben kann und darf, wie er es für richtig hält, dass er in Übereinstimmung mit sich selbst leben darf und will. So wird menschenwürdiges Leben überhaupt erst möglich. So wird Selbstentfaltung möglich. So entsteht Kreativität und Innovation. So kann man als Mensch zu sich selber und zu seinen Mitmenschen ja sagen.
Ohne Freiheit leben wir wie in einem Gefängnis. Die SED hätte gar keine Mauer zu bauen brauchen, um zu verdeutlichen, dass die DDR ein solches Gefängnis war.
Aber ich muss gar nicht so weit zurückgehen. Wenn ich mir die bürokratische Zumutung anschaue, wie die Arbeitsagenturen zur Zeit arbeitslose Menschen behandeln, obwohl das alles gut gemeint war, dann weiss ich, dass hier nicht die Entfaltung des Arbeitsvermögens und de Selbsthilfe im Mittelpunkt steht, sondern Zwangsmassnahmen und Willkür. Die Arbeitsagenturen setzen so zumindest nicht die ARbeitsberitschaft der Menschen frei, sondern sie entmutigen und bevormunden. Und deshalb muss diese Form der Arbeitsvermittlung schleunigst verändert werden.
Weisst uns die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht einen besseren Weg soziale Mindesstandards zu wahren ohne staatliche Bevormundung und Gängelung?
Und wenn ich will, dass die Menschen sich entfalten können, dann muss der gegenwärtige Zustand für die junge Generation, die häufig nach ihrer Ausbildung vor verschlossenen Türen stehen, weil unsere Marktwirtschaft wie eine closed-shop-Veranstaltung jener, die hier Arbeit und Einkommen haben, ein ständiger Stein des Anstosses sein.
Und dieses Problem lässt sich nicht durch Arbeitszeitverkürzung, vorzeitigem Ruhestand oder staatlichem Beschäftigungssektor lösen, sondern nur durch wirtschaftliche Erneuerung, durch wirtschaftlichen Aufschwung.
Den kann ich aber nur schaffen, wenn ich an die alten Tugenden der Kartellbekämpfung, der Verhinderung von Monopolen, des fairen Wettbewerbs anknüpfe, wenn ich die Markteintrittsschwellen für junge neue Unternehmen senke, wenn ich berufsständigen Organisationen wie den IHK’s ihren Zwangscharakter nehme, etc.
Wie lange soll das Monopol der Deutschen Bahn noch weiter bestehen, jenem Betrieb, der in jedem ausländischen Wettbewerber einen unpatriotischen Akt sieht? Statt sich beherzt und im Vertrauen auf eigene Stärken dem Wettbewerb zu stellen, versucht sie ihn zu verhindern.
Und wie lange sollen die grossen Stromkonzerne noch die Lizenz zum Gelddrucken behalten, indem sie die Dezenztralisierung bekämpfen, und jüngst von dieser schwarz-gelben Bundesregierung die Laufzeiten ihrer Atomkraftwerke verlängert bekamen?
Und dann muss die Politik des Global Players aufhören, die unter Kohl begonnen hat, und bis heute dauert. Sie hat nichts gebracht. Sie verteufelt die Globalisierung statt sie zu nutzen. Sie hat uns Monopole produziert. Dabei hat schon Adam Smith festgestellt, dass ein Unternehmen, wenn es erst einmal Sonderrechte oder Monopolstellungen innehat, all seine Kraft nicht mehr in die Produktivitätserhöhung und bessere Produkte steckt, sondern in die Aufrechterhaltung ihrer Sonderrechte und Monopolstellungen, die in der Regel staatlich, das heisst politisch garantiert werden.
Und das erklärt, warum die Deutsche Bahn schimpft und Preise erhöht, und warum Stromkonzerne die Energiesicherheit skandalisieren und gegen die alternativen Energien sind, und warum es so teuer war, die Folgen der Finanzkrise zu bewältigen. Wenn ich nämlcih erst mal so grosse Banken habe, dass ihr Untergang zu einem Untergang des Bankensystems zu werden droht, so war es ja bei der Hypo Real Estate Bank, dann muss ich natürlich Milliarden in marode Unternehmen stecken, um das schlimmste zu verhüten. Besser ist es, die Unternehmen werden erst gar nicht so gross, das nützt dem Wettbewerb und der Staat braucht nicht das unternehmerische Risiko mehr zu finanzieren. Das macht ihn nämlich arm.
Und ich muss zugeben, dass Regionen nicht durch Fördermittel leben, sondern durch die Tatkraft, Kreativität und Ideen ihrer Bürger. Kein Staat kann letzteres ersetzen. Deshalb muss sozialdemokratische Politik den Menschen geben, was ihnen sowieso gehört, die Initiative etwas aufzubauen, zu handeln, etwas aus sich, aus ihren Familien, ihren Orten, ihrem Wirkungsradius etwas zu machen. Viel wichtiger als staatliche Fördermittel ist die Eigeninitiative. Nach wie vor ist J.F. Kennedy aktuell mit seiner Inaugurationsrede: „Frage nicht zuerst, was dein Land für dich tut, sondern was du für dein Land tun kannst.“
Und erst recht brauche ich keine Angst vor dem Klimawandel zu haben. Hier ist soviel wissenschaftliche und technische Entwicklung nötig, soviel Kreativität und Genieblitze, hier müssen soviel Produkte neu aus dem Boden gestampft werden, dass unser Land angesichts seiner Unis und TH’s, seiner ingenieurtechnischen Traditionen und nicht zuletzt der hohen Zahl an Arbeitslosen nur profitieren kann. Es stimmt auch nicht, dass uns der Klimawandel etwas kostet. Im Gegenteil, wir schaffen die Produkte um ihn zu bewältigen, schaffen dadurch Wachstum und Beschäftigung und können außerdem noch exportieren.
Noch grösser ist das Feld auf dem Gebiet der Kreativwirtschaft. Hier entstehen Branchen, deren Namen wir noch nicht einmal kennen. Das Internet hat unsere Wirtschaft und Technologien revolutioniert wie weiland die Dampfmaschine. Und jede technische Revolution hat zum Schluss mehr Arbeitsplätze geschaffen, als alte unmoderne vernichtet.
Ja es stimmt, ich muss die Sorgen der Alt-Industrie im Blick haben, aber ich darf mir von ihnen nicht den Blick auf die neuen Technologien und wirtschaftlichen Perspektiven verstellen lassen. Ich darf das eine nicht gegen das andere ausspielen.
Das Industriezeitalter ist vorbei, und wir brauchen Menschen, die das neue sehen, seine Potentiale, seine Produkte, seine Arbeitsplätze und die sich hier hinein wagen mit Lust und Energie.
Aber dafür braucht man Selbstbewusstsein, Tatkraft, Mut, Wissen und Courage. In der Gesellschaft und in der Politik. Für Wissen ist die Schule zuständig, aber für Courage ? Und deshalb sollte die SPD sich zu einem Anwalt jener machen, die etwas neues wagen. Sie sollte den Menschen und insbesondere der nachwachsenden Generationen gegenüber die Fähigkeit zur Tatkraft zusprechen, sie sollte beherzt die Widerstände, die ihnen gegenüber entstehen ansprechen und überwindbar machen.
Die Ich-AG war eine schöne Sache. Sie ist nicht nur am Besitzstandsdenken unproduktiver Handwerker gescheitert, sondern weil unsere eigene Bundesregierung sich zum Anwalt der Handwerkskammern gemacht hat.
Nein mit antikapitalistischen Reflexen, mit dem Thematisieren der auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich sind unsere Probleme nicht zu lösen. Ich kann vielleicht mal ein Ventil öffnen, um den Unmut herauszulassen, denn gerecht ist vieles nicht, was wir hier sehen.
Natürlich sind die Niedriglöhne ein Skandal, oder die Zweiklassengesellschaft in der Arbeitswelt, wenn Zeitarbeiter und regulär beschäftige nebeneinander stehen und die gleiche Arbeit bei doppelten bzw. halben Lohn tun.
Doch gilt auch, und das sollte uns zu denken geben, was jüngst ein amerikanischer Ökonom in einer typisch unbekümmert amerikanischen Art gesagt hat: „Der Kapitalismus ist doch nicht nur für die Reichen da, sondern vor allem für die, die auch reich werden wollen, die auch etwas vom Kuchen haben wollen, die sich auch zutrauen, in diesem Spiel von Kapital und Arbeit, von Vermögen und Unternehmen mitzuspielen. Nur der Kapitalismus gestattet es, dass auch nicht vermögende reich werden können, wenn sie es denn wollen.“ Da ist etwas dran. Und vielleicht ist das der Grund, dass bei der letzten Wahl soviele FDP gewählt haben.
Nun will ich mich nicht zu einem Anwalt des Kapitals machen, aber es hat in unserer Gesellschaft seinen Sinn und es hat Kraft und Macht. Und damit müssen wir umgehen können, wenn wir die Wirtschaft öffnen wollen auch für jene, die heute keinen Platz an der Sonne haben.
Die Sozialdemokratie, darum geht es ja heute, war immer gross, wenn sie Menschen Anerkennung, Teilhabe, Gleichberechtigung ermöglicht hat. Die heutige Arbeitslosigkeit ist und bleibt ein Skandal, die doppelt so hohe in Ostdeutschland ein doppelt so hoher Skandal. Und diese Arbeitslosigkeit bekämpfe ich nicht durch Antikapitalismus, sondern durch partnerschaftliche Vorstellungen, durch die Programmatik einer Partei die sich in diesem Sinne als Volkspartei begreift. Nie war das die SPD durch ihre schiere Grösse. Sondern durch die Anerkennung jeden Lebensentwurfs in unserer Gesellschaft.
Diese Art des partnerschaftlichen gesellschaftlichen Gesamtmodells der SPD ist dann auch bestimmend für unsere Vorstellungen von Solidarität. Wir sind keine Solidargemeinschaft der sozial Schwachen gegen die reichen, sondern wir streben eine Solidarität aller an.
Jeder ist wichtig, ob jung oder alt, Frau oder Mann, Christ oder Atheist, reich oder arm, Arbeiter oder Selbständiger, Rentner oder Schüler, Unternehmer oder Krankenschwester. Niemand von ihnen ist Klassenbester, sondern jeder soll so leben können, wie er es am besten will und am besten kann. Und er soll das entscheiden.
Dass jeder zu sich selber stehen kann, seinen eigenen Lebensentwurf gestalten, das ist gerecht. Unterschiede zwischen den Menschen wird es immer geben. Denn das ist ja das pralle Leben, wie wir es lieben und wollen.
Und in diesem Leben gibt es immer auch Misstände, mit denen man sich beschäftigen muss, die man nicht hinnehmen muss. Das sind Armut, Arbeitslosigkeit, Bürokratie, Willkür, Bevormundung und Angst. Es sind manchmal auch unverdiente Verdienste. Doch sie sollten uns nicht den Optimismus nehmen zu wissen, dass wir zusammengehören, dass wir eine Gesellschaft freier Menschen sein wollen und können, und dass wir unsere Probleme nicht nur skandalisieren sondern auch lösen können.
Und wenn wir unsere Mitmenschen als erwachsen und reif ansehen, mit Verstand und Vernunft ausgestattet, dann können wir doch unsere Anhänger, die kein sozialdemokratische Parteibuch haben, einladen, sich an unserer Kandidatenfindung zu beteiligen, an unseren Nominierungsverfahren. Zwar müssen wir Macht abgeben, aber wir gewinnen dabei. Die Zeit ist reif, dem Beispiel der amerikanischen Vorwahlen zu folgen.
Übrigens zum Schluss noch einmal Luther.
Der war genial. Das ist nicht jeder von uns, vielleicht niemand. Er hat mit seiner Rechtfertigungslehre mit einem Schlage der alten Institution der katholischen Kirche den Boden entzogen. Plötzlich war ein Papst, war diese Hierarchie nicht mehr nötig, plötzlich waren keine Klöster mehr nötig, keine Zwitter von geistlichen Würdenträgern und weltlichen Fürsten. Luther schuf eine neue Welt. Ob er das gewollt hat ? Ob ihm das bewusst war ? Ich weiss es nicht.
Viele der alten Misstände: kirchliche Hierarchie, angemasste Autorität geistlicher Würdenträger tauchte auch in der neuen von Luther reformierten Kirche wieder auf. Es überlebte in neuem Gewande. Aber er hat die Menschen freier gemacht, und diese Freiheit war nicht mehr totzukriegen. Luther hat am Rad der Weltgeschichte gedreht.
Das haben wir 1989/90 auch gemacht.
Und wir sollten wissen, dass damit nicht alle Misstände beseitigt sind, manche alten wieder neu auftauchen. Aber das sollte uns nicht hindern, sie als das zu sehen, was sie sind, ein Anachronismus. Das zum Beispiel ist die Linkspartei, ein Anachronismus, überlebt und überflüssig. Die SPD ist nicht gut beraten sich von ihr in Form einer roten-roten Koalition, gar vielleicht mal Fusion abhängig zu machen. Je mehr sie sich mit ihr einlässt, desto mehr entfernt sie sich von den Veränderungen 89/90 und desto schwerer wird ihre eigene Erneuerung. Sonst geht es der Sozialdemokratie wie weiland Mitte des vorletzten Jahrhunderts Ungarn, die sich in der KuK-Monarchie mit dem untergehenden Habsburg verbündet haben, und deshalb nach dem ersten Weltkrieg auf ein Drittel seines urspünglichen Territoriums geschrumpft wurde.
Entscheidend ist mir etwas anderes.
Luther lebte in einer Sphäre des Suchens und des Reflektierens und Diskutierens. Erst dadurch fand er seine Lösung.
Wir alle brauchen nicht genial sein, und müssen uns nicht vom grossen Wurf abhängig machen. Wenn wir uns selber als suchend und kommunizierend begreifen, dann erfüllen wir selber die erste notwendige Voraussetzung unserm Land zu dienen, und die SPD wieder stark zu machen.
Was wir brauchen ist Mut zur Veränderung und Vertrauen in die eigene Kraft.