Kurzvortrag und Einleitung des Podiums auf der gleichnamigen Veranstaltung des Berliner LStU am 29.10.2014 um 19 Uhr im Rathaus Berlin-Mitte

 

Vom heißen Oktober über die Großdemo auf dem Alex zum Fall der Mauer

 

Die Zeit Oktober/November 1989 gehört für mich zu den spannendsten Epochen meiner Geschichte.

 

Drei Vorbemerkungen:

 

Ich kann, als Zeitzeuge, und wir sind hier heute alle Zeitzeugen, gar nicht anders als persönlich berichten. Zeitzeugenschaft ist immer subjektiv. Also sind wir heute alle subjektiv. Doch das meine Damen und Herren wissen Sie. Sie sind trotzdem gekommen. Subjektiv heißt nicht beliebig, erst recht nicht belanglos oder unbedeutend. Sondern heißt sich couragiert und leidenschaftlich zu den eigenen Erinnerungen und ihren Deutungen zu bekennen, selbst da, wo mainstream-Wissenschaft und öffentliche Meinung, gar politische Positionen dagegenstehen. Und deshalb kann sie, ist sie eine Bereicherung.

 

Zweitens geht es hier nicht um eine Pflichtübung im Sinne einer Veranstaltung die, wie hunderte andere in unserem Land zur Zeit auch gelegentlich weihevoll der gelungenen friedlichen Revolution vor 25 Jahren gedenkt. Sondern es geht um die Möglichkeit individuelle, möglichst unterschiedliche Sichtweisen auszutauschen, und damit einen Raum zu schaffen, in dem etwas davon aufleuchtet, was geschehen ist.

 

Über die friedliche Revolution existieren diverse Legenden, haben sich zweckdienliche, interessengeleitete Positionen breit gemacht. Die werden wir heute nicht abräumen. Doch in dem Maße, wie man sich mit der Geschichte intensiver beschäftigt, verblassen sie. Triebkräfte werden deutlich. Interessen, Denktraditionen scheinen auf, werden mit ihren Folgen kontrastiert. Ihre Leistungsfähig- oder aber auch Unfähigkeit kommt auf den Tisch. Das genau macht die politische Bedeutung von Geschichtsaufarbeitung aus.

 

In den letzten 2 – 3 Jahren vor der hier zu behandelnden Epoche zeigte die DDR bereits erste Auflösungserscheinungen. Sie waren am Arbeitsplatz, bei der Polizei und den Grenzabfertigungen zu spüren. Sie waren nicht flächendeckend zu beobachten. Die Sicherheitsorgane konnten immer noch unbarmherzig zuschlagen. Und doch: Staatliche Autoritäten zogen sich zurück. Es entstand ein Vakuum, wo früher die harte Hand der SED durchgegriffen hatte.

 

Die Partei war irritiert.

 

Die wirtschaftliche Krise der DDR, der erkennbare Bankrott der staatlichen Finanzen, der unaufholbare Abstand zum nichtsozialistischen Währungsgebiet, insbesondere der Bundesrepublik in Fragen von technologischer Innovation, allgemeinem Lebensstandard, die uneingelösten sozialen Versprechungen der SED, nun auch die gravierende Fluchtbewegung, vor allem aber der Kurs Gorbatschows, mit dem die greise Politbüro – Führung nichts anfangen konnte, ja, der ihnen Angst machte, führte zur Sprach- und Orientierungslosigkeit in der SED. Ihre Abhängigkeit von Moskau war wesentlich größer als die ihrer sozialistischen Bruderparteien. Die fehlende völkerrechtliche Souveränität der DDR als von der Sowjetunion besetzte deutsche Teilnation und die fehlende Verbundenheit der DDR-Bürger mit ihrem Staat ergänzten sich für die SED auf fatale Weise.

 

Die Menschen in der DDR spürten die offenkundige Ratlosigkeit der SED-Führung. Das Sputnikverbot war ein Offenbarungseid. Honeckers Spruch vom Sozialismus, den weder Ochs noch Esel aufhält, war alles, aber kein Zeichen intellektuellen Hochniveaus, was man zwar auch sonst nicht immer an der Spitze von Staaten hat, zweifelsohne aber braucht. Sein Spruch von der Mauer, die noch 50 Jahre steht, und wenns sein muss 100, bewirkte nichts anderes, als dass noch mehr Menschen einen Ausreiseantrag stellten. Und als Krenz auch noch China für sein Vorgehen auf dem Platz des himmlischen Friedens lobte, beeindruckte das in der Opposition niemanden mehr.

 

Was war der Kern dieser offenkundigen Schwäche der SED?

 

War es Polen, wo in den ersten freien Wahlen im sowjetischen Machtbereich die Kommunisten unter die 5%-Hürde rutschten? Oder Ungarn, mit seiner Grenzöffnung? Und waren dies die Ursachen oder die Symptome einer veränderten Lage im sozialistischen Staatenverbund Ost-/Mitteleuropas?

 

Dass Gorbatschow sich von der sogenannten Breschnew-Doktrin löste, wurde zwar besprochen, aber in seiner ganzen Bedeutung nur von den Allerwenigsten erfasst.

 

Die DDR war ja die westlichste Ausdehnung des Stalin‘schen Riesenreiches, das hierbei durchaus auch neben seinem sozialistischen, in diesem Fall antikapitalistischen Selbstverständnis in der zaristisch-imperialen Tradition eines Kolonialreiches in seiner russischen Variante stand. Stalin brauchte keine Breschnew-Doktrin. Ihm nahm man ab, dass er keines seiner Gebiete freiwillig hergeben würde. Breschnew bekräftigte dies noch einmal und legitimierte damit den Einmarsch in Prag 68, in Ungarn 56, die Niederschlagung des Aufstandes in der DDR 1953. Nur in Polen ließ man die Drecksarbeit von den polnischen Kommunisten selber machen.

 

Die Breschnew – Doktrin hat meines Wissens nicht auf dem Papier gestanden, sie war ein Bestandteil unserer Wirklichkeit. Sie war die politische Formel des sowjetischen Herrschaftsanspruchs über ihre ost- und mitteleuropäischen Satelittenstaaten, den sie, falls nötig, militärisch sichern würde.

 

Gorbatschow brach damit. Er entließ seine herrschenden Bruderparteien in die Selbstbestimmung. Ein Danaer-Geschenk.

 

Gorbatschow war offenbar nach einer eingehenden Kosten-Nutzen-Rechnung zu dem Schluss gekommen, dass er sich den Kalten Krieges, die militärische Hochrüstung und die Sicherung der Machtverhältnisse in seinen sozialistischen Bruderländer nicht mehr leisten konnte.

 

Spielraum war entstanden, für die einen Quelle von Angst, für die anderen der Hoffnung. Es hing von der politischen Analysefähigkeit ab, die Konsequenzen dieses Spielraums zu durchdenken. Die politischen Veränderungen in Polen und Ungarn waren Ergebnisse dieses Spielraums.

 

Die Oppositionsbewegung in der DDR, die Friedenskreise, Umweltgruppen oder andere Initiativen, ob unter dem Dach der Kirche oder sich davon vorsichtig emanzipierend, ahnten kaum, welch eine Schlüsselrolle ihnen vor diesem Hintergrund zukommen würde. Ihre verschwommenen politischen Zielvorstellungen, ihre Verweigerung gegenüber verbindlichen Strukturen und klaren Machtstrebens ließen nicht erkennen, dass sie zu einer ernsthaften Gefahr für die SED-Diktatur werden könnten. Auch wenn sie zu den wenigen gehörten, die damals Licht in das Dunkel der SED-Diktatur brachten.

 

Die Auseinandersetzungen um die Inhaftierten nach der Rosa-Luxemburg-Demonstration Januar 1988 führten zu einer Niederlage der Opposition. Es war offenkundig geworden, dass sie so nicht in der Lage sein würden, der SED ernsthaft Zugeständnisse abzuringen. Das gleiche gilt auch für den Olof-Palme-Friedensmarsch, oder das an für sich großartige politische Event bei der Aufdeckung der Wahlfälschung Mai 1989.

 

Die Idee eine Partei zu gründen, insbesondere eine sozialdemokratische fußt auf dieser Zustandsbeschreibung und machte sich daran, den Rückzug Gorbatschows aus seinen Satellitenstaaten, insbesondere aus Deutschland ernsthaft zu prüfen. Wollte die Oppositionsbewegung mit Macht damals noch nichts zu tun haben, lehnten sie verbindliche und handlungsfähige Strukturen ab, die sozialdemokratische Idee wollte sie schaffen. Sie wollte die SED treffen, wollte ihre Entmachtung. Dabei traf insbesondere die sozialdemokratische Ausrichtung der angestrebten Parteigründung die SED ins Mark. Eine bürgerliche Partei hätte sich mit den Hanseln der Blockparteien auseinandersetzen müssen, eine sozialdemokratische Partei stellte die SED selbst, ihr Wahrheitsmonopol und ihre Geschichtsmythologie von der Einheit der Arbeiterklasse in Frage.

 

Die Oppositionsbewegung wollte in ihrer großen Mehrheit weder Partei sein, noch sozialdemokratisch. Sie wollte sich die Entwicklungen offenhalten,

 

sei es, weil ihnen der Abschied von sozialistischen Utopien, resp. eines Dritten Weges schwerfiel,

 

sei es, weil ihnen die westeuropäische Demokratien, ganz offenkundig das sozialdemokratische Leitbild als verkrustet und wenig attraktiv erschienen,

 

sei es, weil sie eine gewisse Identität mit ihrem Staat DDR entwickelt hatten, zu dem sie sich zwar in Opposition befanden, gleichzeitig aber nicht lösen wollten. An dieser Stelle gibt es übrigens eine interessante Parallele zur alten Bundesrepublik, wo sich ja ebenfalls Verselbständigungstendenzen in Sachen Eigenstaatlichkeit herausgebildet hatten.

 

Nach der sozialdemokratischen Initiative musste die übrige DDR-Opposition reagieren. Die Idee einer Parteigründung zwang sie, ihre eigene Strukturmodelle offenzulegen. So entstand die Idee zum Neuen Forum, zu Demokratie Jetzt, in gewisser Weise auch zum Demokratischen Aufbruch.

 

All diese Initiativen waren Anfang Oktober 89 auf dem Markt. Sie waren in der Öffentlichkeit bekannt, und sie machten Furore. Das Neue Forum hatte einen solchen Zulauf, dass ihre Matadoren Bärbel Bohley, die leider nicht mehr unter uns weilt, und Jens Reich, zu gefragten Interview-Partnern der Weltpresse wurden.

 

Es gibt Rufe und akustische Botschaften, die man, einmal gehört, nicht mehr vergisst. Dazu gehört der Ruf der Demonstranten in Leipzig auf den Montagsdemos „Neues Forum zulassen“. Als die Bilder von dieser Leipziger Montagsdemonstration am 9.Oktober 1989 um die Welt gingen, mit diesen 10-tausenden von Menschen, die über den Leipziger Ring liefen, politische Losungen skandierend wie „Wir sind das Volk“, „Reih Dich ein, schließ Dich an“ da hatte ich das erste Mal das Gefühl von Stolz und Dankbarkeit gegenüber meinen Mitbürgern in der DDR. Es ist das Verdienst der Oppositionsbewegung in der DDR, dass es zu diesen Demonstrationen kam. Und zwar nicht nur des Friedenskreises um Wonneberger und Führer in Leipzig, die seit Jahren dem Protest gegen das System allmontäglich eine Plattform gaben, sondern nun auch den Neugründungen aus der Opposition heraus. Denn die Menschen spürten, dass sich da jemand auf den Weg machte, dass es jetzt nicht nur mehr um Protest ging, sondern um politische Veränderungen. Und das beflügelt eine Demonstrationsbewegung immer. In diesem Oktober war die Oppositionsbewegung zum Kopf des Aufstandes geworden. Zu was Volksaufstände führen können, die nicht von politischen Ideen und Konzepten begleitet werden, sondern beim Protest stehenbleiben, war ja erst jüngst beim Arabischen Frühling zu beobachten.

 

Die Kundgebungen blieben gewaltfrei, zumindest was die Demonstranten betrifft. Am 7.Oktober knüppelte die Staatsmacht noch. Danach nicht mehr.

 

Der Protest hatte sich in vielen Städten gleichzeitig entzündet. In Dresden und Plauen, in Leipzig und in Berlin. Eine merkwürdige Parallele zum Aufstand 1953, der auch in vielen Regionen gleichzeitig ausbrach. Offenbar gab es trotz fehlender Öffentlichkeit hier immer auch Kommunikation. Eine andere Erklärung ist die des siedenden Wassers. Wer Wasser beim Kochen zusieht, beobachtet auch, wie sich ganz schnell aus einzelnen Blasen, blitzartig und nahezu gleichzeitig, sprudelndes, blubberndes Wasser entwickelt. So ähnlich war es in den Tagen vom 7. bis 9. Oktober in der DDR.

 

In der Bundesrepublik rieb man sich verwundert die Augen. Was immer man über den Westen sagen kann, er hat die Menschen in der DDR nicht ermutigt, auf die Straßen zu gehen.

 

Warum hatten die Menschen in der DDR plötzlich keine Angst mehr? Antwort: Stimmt nicht. Sie hatten Angst. Sie sind trotzdem gegangen. Sie trieb nicht der Mut der Verzweiflung, wie Wolfgang Thierse kürzlich schrieb, sondern ein Gespür dafür, dass die SED angreifbar geworden war. Sie folgten einer inneren Stimmung, die man vielleicht als eine Art grimmiger Entschlossenheit beschreiben kann, die aus der Wut über die politischen Verhältnisse und deren Perspektivlosigkeit ihre Motivation nahm, die in ein Gefühl des „Jetzt reichts!“ mündete.

 

Diese Art von Entschlossenheit kann noch viel weiter gehen, wenn sich keine Lösung anbietet. Wir kennen das von Aufständen zur Genüge. In der DDR kam es nicht dazu. Die Welt staunte über die Gewaltfreiheit der Demonstranten.

 

Das hat mit Martin Luther King, auch mit Ghandi, und der ev. Kirche etwas zu tun. Die Moderne hat die Erfahrung vermittelt, dass Gewaltfreiheit stark macht. Wer sich nicht provozieren lässt, hat die Chance zu gewinnen, selbst in scheinbar auswegloser Situation.

 

Die Erfahrungen mit der Anwendung polizeilicher Gewalt am 7. Oktober müssen für die SED ernüchternd gewesen sein. Wieder einmal musste sie erleben, dass hartes Durchgreifen ihr nicht mehr die Autorität verlieh, die sie sich davon versprochen hatte. Im Gegenteil, auch in der SED hagelte es Protest. Leute traten aus den Kampfgruppen aus, Polizisten verweigerten die Befehle, Offiziersschüler warfen ihre Waffen weg.

 

Am 9.Oktober hat die SED in Leipzig endgültig auf den Einsatz von Gewalt verzichtet. Sie zog die chinesische Karte nicht. Sie traute sich nicht. Ohne russische Panzer und wohl auch ohne sowjetischen Segen fehlte ihr die entscheidende Härte. Gorbatschow ließ nicht marschieren. Die Panzer blieben in den Kasernen. Hätte Gorbatschow seine Rettungsversuche einer kleiner werdenden Sowjetunion zu Gunsten einer unrettbaren SED-Diktatur in Deutschland opfern sollen? Diese Erfahrung alleine schon rechtfertigte die Realisierung der Idee einer sozialdemokratischen Partei in der DDR.

 

Kürzlich erinnerte sich ein Zeitzeuge an seine Empfindungen als er von dieser Gründung hörte: Jetzt geht es richtig los. Ich weiß nicht wie viele Menschen so gedacht haben. Aber man muss ja kein sozialdemokratischer Sympathisant sein, um zu wissen, welche Bedeutung die von ihr vertretenen Ideen und organisatorische Kraft haben kann.

 

In allen Städten der DDR kam es jetzt zu Kundgebungen. Im Norden musste etwas nachgeholfen werden. Sächsische Tankwarte haben Mecklenburger Autos das Benzin verweigert, solange die nicht mitmachen würden. Dann demonstrierten die auch.

 

Und jetzt passierte etwas ganz Erstaunliches.

 

Die Bevölkerung zwang die jeweiligen SED-Vorsitzenden und Repräsentanten zum Dialog, nur um sie dabei auszulachen. Lachen befreit. In diesem Fall von der Macht der SED. Die Parteimitglieder spürten das. Eine Austrittswelle begann. Manche unter ihnen versuchten sich hingegen an die Spitze der Bewegung zu setzen. Schabowski gehört dazu. Er gab nicht auf. Er war ja nun auch ein alter Kader, aber er hatte Charakter. Der kämpfte.

 

Die Partei hatte noch nicht aufgegeben. Sie ging immer noch davon aus, dass es ihr gelingen könnte, dem Volksaufstand eine rettende Wendung zu geben. Aber sie kam immer zu spät. Ihr Reisegesetz z.B. fiel durch. Als Krenz den Honecker ablöste, war es so, als ob Senilität von Grobschlächtigkeit abgelöst wird. Ein Zerrbild, sicher, aber das waren meine Empfindungen. Sie wissen, was die Bevölkerung von Krenz hielt? In Anlehnung an Rotkäppchen zeigte auf der Berliner Großdemo ein Plakat Egon Krenz mit seinem Riesengebiß und der Frage: „Großmutter, warum hast du so große Zähne?“. Die Leute trauten der SED nicht, auch nicht in Gestalt einer anderen Führung.

 

Jedes Mal war ich damals dankbar dafür, dass die Maßnahmen der SED ins Leere liefen. Die Leute ließen sich nicht beeindrucken. Sie hatten Gefallen an den Demos gefunden. Es macht ja dann auch Spaß plötzlich die eigene Macht zu erleben. Die Montagsdemos wurden zunehmend zu Demonstrationen gewachsener Stärke.

 

Nur in Berlin wurde nach dem 9.Oktober nicht demonstriert. Zwar war Berlin das intellektuelle Zentrum der Opposition, aber ausgerechnet hier stand niemand auf der Straße. Das sollte sich ändern. Ines Geipel schreibt, dass es das Neue Forum, vor allem wohl Bärbel Bohley und Jens Reich gewesen seien, welche die Theaterleute angespitzt hätten die Großdemo auf dem Alex zu organisieren. Das kann ja heute aufgeklärt werden.

 

Diese Demo am 4.November unterschied sich in vielerlei Hinsicht von den in den anderen Städten. Schon dass die Organisatoren sich um Legalität bemühten, und die Demo anmeldeten. Das machte in der ganzen DDR sonst niemand.

 

Dann die Rednerliste.

 

Parteien wurden nicht eingeladen. Dass Konrad Elmer für die junge SDP sprechen durfte hat er persönlichen Kontakten zu verdanken, die seinetwegen eine Ausnahme machten. Der Vorstand der SDP wusste nichts davon.

 

Die SED genehmigte die Demo, weil sie hoffte, dem Volksaufstand die erhoffte Wendung geben zu können. Tatsächlich hätte sie die Demo nicht verhindern können. Was die Organisatoren bei einem Verbot ihrer Demo gemacht hätten, kann niemand sagen. Auf jeden Fall haben sie sich nach erfolgreicher Durchführung dieser Großdemo vom 4.November die Idee einer Nachfolge-Demo ausgerechnet von Gregor Gysi ausreden lassen.

 

Eine halbe Million Menschen, manche sprechen von einer Million, stand am 4.November vormittags auf dem Alex und wollte kernige Protest-Losungen hören, die sie bejubeln konnten. Statt dessen lobte Konrad Wolf seine Stasitruppe, Christa Wolf beschwor den Sozialismus, Heiner Müller meinte den Leuten mitteilen zu müssen, dass Kapitalismus anstrengend wird. Nebenbei, da hatte er Recht, aber wer wollte das hören? Dann lobte er noch die Gründung freier Gewerkschaften. Niemand sprach davon, dass der Macht und Wahrheitsanspruch in der Verfassung fallen muss, dass die SED für Tausende von Toten verantwortlich ist, dass die Mauer das grässlichste Bauwerk Deutschlands war. Zwei Kilometer waren es bis zum Brandenburger Tor. Was wäre wohl geschehen, wenn jemand die Demonstranten aufgefordert hätte, zur Mauer zu marschieren, um sie bereits am 4.11. einzudrücken ?

 

Die Leute buhten und pfiffen. Sie wollten die Botschaften ihrer Redner nicht hören. Jedes Mal wenn einer von ihnen sprach, und wieder ausgepfiffen wurde, war wieder ein Denkmal vom Sockel gestürzt. Die eigentliche Botschaft dieser Demo ging nicht von den Rednern aus, sondern vom ablehnenden Verhalten ihres Publikums. Auch die Berliner, wie die Leipziger wollten keinen DDR-Sozialismus mehr. Sie wollten Reisefreiheit, besseren Lebensstandard, Demokratie, freie Wahlen. Wenn die Redner mal davon sprachen, Jens Reich sprach die Wahlen an, dann nur in Andeutungen.

 

Die Demo, so wie sie durchgeführt wurde, war der misslungene Versuch, eine Art Sozialismus in der DDR, ihre Staatlichkeit zu retten.

 

Besonders augenfällig war die Reaktion von Schabowski, der es auch auf die Rednertribüne geschafft hatte. Auf den Videos von seinem Auftritt ist zu sehen, wie er geradezu aschfahl wurde, als er merkte, dass die Leute ihm nicht eine einzige seiner Botschaften abnahmen. Das nennt man stehend k.o. Die SED war an ihr Ende angelangt. Hier am Alex zeigte sich auch, wer sie anschließend führen würde. Der einzige namhafte Genosse der wirklich Beifall erhielt war Gysi. Er konnte sich frei machen vom Mief der alten SED Politbürokratie, obwohl er Nomenklaturkader war, und bereits hochrangige Posten in der DDR bekleidete.

 

Was blieb der SED noch übrig?

 

Am 9.November verkündete Schabowski die sofortige, unverzügliche Reisefreiheit der DDR – Bürger, die Kapitulation seiner Partei. Wie auch immer diese Entscheidung zu Stande gekommen ist. Sie war folgerichtig. Doch sie war genauso eine Nacht- und Nebel-Aktion wie der Mauerbau selbst. Die SED blieb sich treu. Verantwortlich gehandelt hat sie auch in den Tagen ihres Abgangs nicht.

 

Das Volk in der DDR hatte ihre herrschende Partei in die Knie gezwungen, hat die Zwangsjacke ihrer Diktatur abgeworfen. Der Mauerfall am 9. November war ein Tag der Befreiung, der Selbstbefreiung - von Diktatur, Stacheldraht und Wahrheitsanspruch. Der Eiserne Vorhang war gefallen. Das Ende der zweiten Diktatur in Deutschland schien besiegelt. Die totalitäre Epoche im letzten Jahrhundert ging zu Ende.

 

Spätestens in diesem Moment ging es nicht mehr darum gegen etwas zu sein, nämlich die politischen Verhältnisse sondern für. Negatives, kritisches Denken reichte nicht mehr aus. Jetzt ging es um die Gestaltung der politischen Verhältnisse in der DDR.

 

Am Tag danach spricht Willy Brandt mit seinem berühmten Wort vom Zusammenwachsen, was zusammengehöre, zuerst mal sich selbst, aber auch vielen anderen aus dem Herzen. Ein neues Thema beginnt die Straße zu beherrschen. Doch eigentlich ist es ein altes. Siehe Berlin 53, oder Erfurt 1970.

 

Andererseits teilte damals nicht jeder das Gefühl der Zusammengehörigkeit von Ost und West und zwar in Ost und West. Nicht jeder war sich über die historische Bedeutung der deutschen Frage im Klaren. Es ging ja hier nicht nur um den Kalten Krieg, um ein Ende des Wettrüstens, sondern auch um ein Ende der Nachkriegszeit. Tabus waren entstanden, der Besatzungsstatus Deutschlands war verdrängt, neue Lebensgefühle fußend auf der scheinbar so manifesten und unverrückbaren Teilung Deutschlands hatten sich herausgebildet. All dies war jetzt in Frage gestellt.

 

Jetzt kam es auf den Fahrplan an, wie vor dem Hintergrund der zusammenbrechenden SED-Herrschaft mit diesen Herausforderungen umzugehen war.

 

Um noch einmal auf die Sozialdemokraten zurückzukommen. Sie hatten von Anfang an im demokratischen Rechtsstaat die Voraussetzung individueller und politischer Selbstbestimmung gesehen, und zu ihrer Vision einer veränderten DDR gemacht. Diese Vision war mit dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft nicht erledigt. Die Entmachtung der SED war ihre Voraussetzung.

 

Die Sozialdemokraten hatten mit der Ermöglichung von Selbstbestimmung in demokratisch verfassten Formen ein Instrument in der Hand, das es den DDR-Bürgern gestatten würde, ihrem Willen in einem staatlichen Gemeinwesen Ausdruck zu verleihen. Selbstbestimmung war der universelle Wert der westlichen Demokratien, und sie war der Traum der Menschen in den immer noch sowjetisch beherrschten Ländern Ost- und Mitteleuropas.

 

Die DDR in ihrer jetzigen Form, in den Wochen und Monaten nach dem Mauerfall, war ja nicht satisfaktionsfähig. So wie die SED von der Bühne abtrat, hätten ihre Auflösungserscheinungen durchaus im Chaos enden können. Eine ausufernde Fluchtbewegung, Entstaatlichung und Überforderung des westdeutschen Gemeinwesens waren ja keine aus der Luft gegriffenen Gefahren. Auf der anderen Seite brauchte es organisierte, politische Interessenvertretung für die Ostdeutschen, in dem nun möglichen, heiß ersehnten und anstehenden Einigungsprozeß.

 

Ich nehme mir mal das Recht, Martin Gutzeit, den spiritus rector der neuen ostdeutschen sozialdemokratischen Partei in der DDR in einem Gespräche mit Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel am 10.November 1989, also einen Tag nach dem Mauerfall zu Wort kommen zu lassen, der hier seine Vorstellungen über den Fahrplan der nächsten Phase formuliert:

 

„Da ist …. zu klären, dass Menschen (in der DDR) aufrecht und in Würde leben und arbeiten können …. , dass sie keine Angst mehr haben müssen.“

 

„Wir brauchen eine klare, stabile Übergangsphase“. „Der Runde Tisch ist wichtig, ne klare Zeitplanung über freie Wahlen, Verfassungsänderung … Und dann eben Möglichkeiten der wirtschaftlichen Stabilisierung,..“

 

„Ja, was die Frage nach der Sehnsucht mit der Einheit (betrifft), ich kann das ja verstehen. emotional. Aber das hat auch etwas mit politischer Rationalität, und den Interessen der Bürger, die hier in diesem Gebiet leben, zu tun, und da frage ich immer, was passiert, wenn wir plötzlich die Einheit haben. Wir sind ein Volk, wir haben lauter Werktätige, die nicht im Besitz des Wertes ihrer Arbeit sind. Wir haben Gutscheine, deren Einlösung nicht gewährleistet ist. Und wenn plötzlich Milliarden von Devisen hier rüberfließen, sind wir plötzlich arme Leute und es könnte sehr schnell passieren, dass wir nichts mehr haben, weil wir aufgekauft werden. Das sind die ökonomischen Momente der Einheit, wenn sie jetzt sehr schnell da ist.“ .. „Es geht hier um die politische und ökonomische Selbstbestimmung der Bürger, die hier leben.“ .. „Und zwar in einem Miteinander der beiden Deutschen Staaten, wo die Grenzen ihr Trennendes verloren haben.“ … „Und wie sich die spätere politische Ordnung in Europa, auch zwischen den deutschen Staaten ergibt, das ist noch gar nicht raus.“

 

Das meine Damen und Herren gesagt am 10.November, einen Tag nach dem Mauerfall, wo Bärbel Bohley ihre Erschütterung über die Entwicklung nicht verbergen konnte, und andere Vertreter der DDR-Opposition die Mauer wiederhaben wollten. Sie wissen, wie die Dinge sich weiter entwickelt haben.

 

Vielleicht wissen sie auch, wie Gorbatschow reagiert hat, speziell auf die Nachricht der sozialdemokratischen Parteigründung in der DDR. Willy Brandt überbrachte diese Info den Gesprächsteilnehmern am 10.November im Albrechtshof unweit des U- und S-Bahnhofs Berlin-Friedrichstr. Gorbatschow antwortete auf diese Nachricht mit der Frage: „ So früh“. Nach Willy Brandt lag kein Vorwurf in dieser Frage. Offenkundig war Gorbatschow keineswegs erschrocken. Er schien das im Blick gehabt zu haben. Mit dieser Frage schließt sich der Kreis seiner Aufkündigung der Breschnew-Doktrin.

 

Ich glaube, ich habe die Möglichkeiten eines Kurzvortrages hiermit erschöpft. Das geht auch nur mit dem Mut zur Lücke. Ich denke, dass ich mir den Vorwurf der Einseitigkeit hier zuziehe, aber wie gesagt, Subjektivität ist immer von Vorteil.