Dieser, der vorherige und die in den nächsten Tagen folgenden Texte sind eine Vorschrift auf einen Text, der anläßlich Gutzeits 65. Geburtstag erscheinen soll.
Martin Gutzeit hatte einen Computer, den besten, den man unter DDR-Bedingungen vom Westen haben kann, den letzten Schrei des aufkeimenden Massenkonsums in Sachen Computer, einen Commodore, C64.
Damit wollten wir jetzt eine Zeitung machen. Gutzeit hatte ein schönes Programm dafür, WordPerfect, was es heute noch gibt. Ich kannte das nicht. Ich war ja selbst sogenannter Computerfachmann, aber meine Computer sahen anders aus. Bürocomputer waren das nicht. Aber Erfahrung und für notwendige innere Ruhe, die man für diese Art von Maschinen braucht, hatte ich schon.
Einen Namen für die Zeitung hatten wir auch: Depesche. Böhme hatte gemeint, dass das der Name eines alten sozialdemokratischen Publikationsorgans gewesen sei. Unser neuer Pressesprecher, Peter Grimm hatte von einer solchen Publikation geschwärmt. Aber Zeit, sich mit so was zu beschäftigen hatte keiner der Vorstandskollegen.
So machten wir beide, Gutzeit und ich uns alleine ans Werk. Es ging erst abends los, tagsüber war keine Ruhe dafür, und auch kein Raum. Aber nun saßen wir in der Wohnung von Rainer Rühle auf dem Hinterhof der Tieckstr. 17 im dritten Stock, in einem leeren Zimmer. Rühle hatte uns freundlicherweise diesen Raum angeboten, weil die kleine Familie diesen Raum noch nicht brauchte. Rühle, der am nächsten Tag arbeiten musste, ging schlafen.
Es zeigte sich schnell, dass WordPerfect zu groß für den C64 war. Der Computer schaufelte ständig dessen Programmteile hin und her, je nach Bedarf. Der Bedarf war groß, die Wartezeiten lang.
Wir hatten zwar einige Texte, aber das ganze sollte auch in ein ansprechendes Layout gebracht werden. Jeder neue Layout-Versuch verursachte wieder Umschaufelungsaktionen und damit Wartezeiten. Und so vergingen Stunden, und es wurde 2 Uhr, 3 Uhr in der Nacht, ohne dass irgendein Ende abzusehen war. Es schien wie es so häufig bei Computerarbeiten ist, nur wenige Schritte, bis zu einer gut akzeptablen Lösung. Und das motiviert einen immer wieder neu. Die Aussicht am nächsten Morgen dieses fertige Layout mit unserer ersten Zeitung den sozialdemokratischen Freunden vorstellen zu können, war so verlockend, dass wir uns die nächsten Nachtstunden um die Ohren hauten. Aber wie weiland bei Sisyphos, nie konnte uns der Computer mit seinem WordPerfect wirklich zufrieden stellen. Mir dämmert, dass wir Abstriche von unseren Vorstellungen machen mussten, wenn wir denn überhaupt ein Ergebnis haben wollten. Ich war hin und hergerissen zwischen meinen eigenen Qualitätsvorstellungen: „Man kann doch schließlich unser Blatt nicht wie ein billiges, nur gut gemeinstes, aber nicht gut gemachtes Samisdat-Blatte aussehen lassen.“. Und Gutzeit ging auf das von mir benannte Dilemma gar nicht mehr ein. Während ich müde begann, zu resignieren, paffte Gutzeit eine Zigarette nach der anderen ohne in der Sache einen Schritt weiter zu kommen.
Um sechs Uhr stand er auf und ging. Er hatte irgendeinen Termin, oder er musste sich um seine Tochter kümmern, das weiß ich nicht mehr.
Das Blatt ist nie erschienen. Zeit für einen neuen Versuch hatten wir nicht. Andere fanden sich nicht. Wir waren gescheitert, aber die nächsten Tage waren wieder so voller Ereignisse, dass die Sache mit dem Telegraph schnell in den Hinterstuben unseres Gedächtnisses verschwunden war.
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