Mit Ibrahim Böhme hatten wir zu jeder Zeit die Staatssicherheit unter uns. Gutzeit hat das nicht angefochten. Für ihn war überhaupt die Staatsicherheit mehr ein Problem der Logik und des Verstandes als ein mentales, oder gar der Angst oder Furcht. In Sachen Staatssicherheit spürte man bei Gutzeit Wut, aber keine Unsicherheit. Ich habe gut nachvollzogen, dass er Böhme von Anfang an für einen unsicheren Kantonisten hielt, für ein Sicherheitsrisiko. Was ich nicht verstanden habe, war sein Test, mit dem er Böhme für sich entlarvt hatte, weit vor der Zeit, wo die ersten Akten über ihn in Umlauf kamen. Weit überhaupt auch vor der Zeit, wo die SDP in ihre Gründungsphase kam. Er versuchte mir das zu erklären, indem er eine Stelle aus dem „Idioten“ von Fjodor Dostojewski anführte, worin der Autor eine Doppelnatur aufzeigte. Mir war das zu hoch. Zumal ich den Idioten nur aus einer westdeutschen Verfilmung kannte, wenn auch einer guten. Mir fehlte also schlicht die Bildung um Gutzeit hier folgen zu können. Gutzeits eigene Sicherheit bei Fragen der Staatssicherheit war phänomenal.
In der Tat hatte er sie mit seiner Parteigründung überlistet. Denn die Verbindlichkeit von Parteistrukturen, das Prinzip freier Wahlen und die politischen Ziele der SDP setzten dem Aktionsradius jedes einzelnen undercover arbeitenden Parteimitglieds enge Grenzen. Wollten sie Einfluss innerhalb der Parteistrukturen haben, müssten sie sich für sie profilieren. Sie müssten also stärken, was sie zersetzen trachteten. Das war also ein Dilemma für die Genossen Schlapphüte, und für uns war es kein Spaziergang. Aber es führte auch zu der skurrilen Situation, dass Böhme am Runden Tisch gemeinsam mit Gutzeit für die Durchleuchtung sämtlicher Mitglieder des Runden Tisches stimmte. Was blieb ihm übrig. Gutzeit brauchte er nichts vorzumachen. Aber enttarnen lassen wollte er sich auch nicht.
Ibrahim verhielt sich intrigant. Er spielte Theater. Bei unserer ersten Begegnung nach der Gründung versteckte er sich. In seiner Wohnung wollte er niemanden empfangen. Im nahegelegenen Park sah er überall Spitzel. Gutzeit knurrte: „Spielchen!“, während ich eher noch Mitleid hatte. Aber auch mir fiel auf, dass Böhme keinen Versuch zu einem konstruktiveren Gespräch, und sei es noch so kurz unternahm, sondern dass er jeglicher Gesprächsansätze mit dubiosen Hinweisen, der Notwendigkeit, jetzt rauchen zu müssen, unbedingt jemanden anzurufen, oder Kaffeetassen abzuwaschen unterband.
Gleichwohl wartete er bei den Vorstandssitzungen mit Informationen auf, die allem Anschein aus dem ZK stammen müssten auf, redete später mal von Modrow, mit dem er nächtliche Gespräche geführt hätte, oder gar mit einer Einschätzung, dass, wenn die friedliche Revolution so weiterginge, die Russen ihre Truppen aus der DDR abziehen würden. Letzteres freute Gutzeit außerordentlich. Ersteres machte ihn misstrauisch.
Und gleichwohl hatte in den ersten Monaten nach SDP-Gründung unsere Zusammenarbeit noch einen vertraulichen Charakter. Das veränderte sich nach Jahreswechsel, als unsere Arbeit zunehmend professionelle Züge erhielt. Dissenz entstand. Und Böhme machte schlapp. Erst zog er aus seiner Wohnung aus, weil es dort angeblich Bombendrohungen gegeben habe. Gutzeit meinte: „Legendenbildung“. Und dann ergab er sich dem Alkohol. „Überfordert“, bemerkte Gutzeit dazu. Irgendwie schien er ihn dennoch unter Kontrolle zu haben, was zunehmend schwerer wurde. Denn eines Tages meinte er zu mir: „Wenn es gar nicht mehr weitergeht, dann muss man das Messer auf den Tisch legen.“ Ich verstand, dass er kurz davor war, ihm zu sagen, was er wirklich von ihm hielt. Aber wahrscheinlich ging es um mehr. Das war in den Wochen vor unserem ersten Parteitag in Leipzig-Markleeberg, der für Böhme zum Höhe- aber auch Wendepunkt seiner Karriere wurde. Böhmes Einfluss war so groß geworden, dass er anstandslos zum Spitzenkandidaten für die bevorstehende Volkskammerwahl gewählt wurde. Meckel und Gutzeit aber fielen in der Vorstandswahl im ersten Wahlgang durch. Da ging Böhme ans Mikrofon und bat die Delegierten um Stimmen für sie. Gutzeit, der neben mir saß, meinte nur: „Das habe ich gewusst!“. So wie ich Gutzeit kannte, ging es hier nicht um eine Insiderinformation, sondern um seine Einschätzung. Denn Böhme hatte keinen außer diesen beiden, die ihn irgendwie durch das schwierige Fahrwasser der nächsten Zeit hätten steuern können. Der Stasi-Spitzel war auf sie angewiesen. Die Unterwanderung hatte in Abhängigkeit geführt.
Ein Bote von Momper erschien auf dem Parteitag mit einer geheimen Botschaft, nur für Böhme bestimmt, nicht für uns, die wir die Partei führten: Akten über Böhme waren aufgetaucht. Von da an war es nur eine Frage der Zeit, bis Böhme in den Medien enttarnt werden würde. Aber wir wussten nichts davon, aber wir waren auch nicht mehr überrascht.
Nach der Enttarnung Böhmes wurde nicht sofort reiner Tisch gemacht. Die SPD zeigte sich nicht dazu in der Lage. So konnte er in der Partei bleiben, konnte weiter mit uns spielen, konnte sogar wieder in den ersten gesamtdeutschen Vorstand gewählt werden. Wir schleppten ihn mit, ihn, der zu einer kraftlosen Puppe verkommen war. Mitleid hatte ich nicht.
Später hat Gutzeit dafür gesorgt, dass Böhme aus der Partei ausgeschlossen wurde. Doch das war in der Tat Jahre später. Erst dieser Schritt setzte Böhmes politischem Theater ein Ende. Böhme hat die SDP nicht verhindern können, er hat ihren Kurs nicht bestimmen können. Schaden hat er gestiftet. Aber eine Legende ist er nicht geworden.
Die Zeiten hatten sich gewaltig geändert.
Die Ost-SPD, wie wir sie gegründet hatten, gab es so nicht mehr. Sie fächerte sich in ihre ostdeutschen Landesverbände auf, und einige wenige gingen in die Bundespolitik. Neue Gestalten standen an ihrer Spitze. Die Partei versprach sich von ihnen mehr Erfolg, ein besseres Image. Der Kurs der Gründer lag im Keller. Jemand, der im kommenden Brandenburger Landtag für die SPD Parlamentspräsident werden würde, dessen persönliche Kriegsschuld, wie sich später herausstellte, in seinen Rücktritt mündete, hatte zu Gutzeit gesagt als der sich für die erste gesamtdeutsche Wahl um einen Bundestagswahlkreis bemühte: „Nach der Revolution gehen die Soldaten in die Kaserne zurück!“. Die Partei war nicht nur undankbar, sie wollte auch vergessen machen, woher und warum sie entstanden war.
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Als die Wogen dieser ersten gemeinsamen Bundestagswahl für das vereinte Deutschland wieder geglättet waren, als sich der Bundestag konstituiert hatte, und Alltag einkehrte, fuhr ich nach Marwitz ins Pfarrhaus. Das Pfarrhaus war leer. Das Namensschild war da noch: Gutzeit. Nachbarn erzählten mir, wo die Familie abgeblieben war. „Ja, das war doch dieser Pfarrer, der in die Politik gegangen ist.“, meinte einer zu mir. Die Revolution frisst ihre Kinder, lautete der Titel von Leonhardts Buch. Ich für meinen Teil fühlte mich nicht aufgefressen. Eher eingekapselt und abgeschirmt. Als ich in der Fischerinsel klingelte, war das die Fortsetzung wie auch ein Neubeginn einer in den revolutionären Zeiten geborenen und gereiften Freundschaft, ohne die ich die politischen Volten der kommenden Jahre nicht überstanden hätte.
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