Die verheerenden Folgen einer Instrumentalisierung - Besprechung

Ines Geipel: „Umkämpfte Zone Mein Bruder, der Osten und der Hass“

 

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019

ISBN 9783608963724

Gebunden, 377 Seiten, 20,00 EUR

 

Grob gesagt beschreibt Ines Geipel die verheerenden Folgen einer Instrumentalisierung statt Aufarbeitung  der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland durch die SED in der DDR. Sie geht den Wurzeln des Rechtsextremismus in Ostdeutschland nach und beschreibt den Nährboden für die Rechtslastigkeit und die Anfälligkeit für nationalsozialistisches Gedankengut in Ostdeutschland. Dabei verschränkt sie ihre Reflexionen mit ihrer eigenen Familiengeschichte, insbesondere ihrer Geschichte mit ihrem Bruder, die zu den gelungensten Passagen in ihrem Buch zählen. Sie erweist sich wieder mal als hochgebildete Autorin, die allerdings der Versuchung nicht widersteht, sozial-psychologischen Erklärungsmustern mit ihrer Spekulativität allzuviel Bedeutung einzuräumen. Gleichwohl gelingen ihr bemerkenswerte Aufschlüsse für spezifisch ostdeutsche, politisch manifeste Haltungen und Einstellungen, die sich in den hohen Zustimmungsraten zur AfD niederschlagen, die aber auch als Erklärungen für handfeste rechtsextremistische Unrechtstaten wie die NSU-Morde mit herangezogen werden können.

 

Ihre Arbeit ist ein Essay, das gekonnt Literarisches mit Analytischem verbindet. Das bleibt am Anfang noch offen. Ines Geipel, die gut schreiben kann, führt den Leser zu ihrem todkranken, geliebten Bruder, den die Autorin nach langen Jahren der Distanz erst wieder an seinem Totenbett wiedersieht. Von hier aus spinnt sie ihre Gedanken in ihre eigene Kindheitsgeschichte zu den Konflikten in der ostdeutschen Gesellschaft, die sich in Hass und Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Verharmlosung der nationalsozialistischen Vergangenheit bis hin zu offenen Verbrechen mit rechtsextremistischen Hintergrund, wie es im Verwaltungsdeutsch des Verfassungsschutzbericht so schön wie verharmlosend heisst, äußern.

 

Ines Geipel geht an diese Fragen nicht direkt heran. Sie tastet sich, sie fragt sich, sie erinnert – auch sich, an ihre eigenen Kindheitserfahrungen, ihr Zusammenleben mit dem Bruder, den Unterschieden in beider Herangehen an die belastende Familiengeschichte, die zur Erklärung der jahrelangen Distanz zwischen den beiden sich eigentlich sehr liebenden Geschwister unverzichtbar sind. So gelingt ihr deutlich zu machen, wie die Verbrechen der Eltern- und Grosseltern-Generation auf die Kinder durchschlagen und auch ihr Leben verdunkeln, so sehr, dass sie die Liebe und das Bedürfnis nach Nähe und Austausch überlagern und ausschalten können. Überhaupt gelingt es der Autorin die Ambivalenz der Familienbeziehungen zwischen persönlicher Vertrautheit einerseits und unbewältigtem Versagen in Folge der Verstrickungen nun nicht nur mehr in den Nationalsozialismus, sondern auch die SED-Diktatur und ihren MfS-Staat andererseits aufzudecken. Dabei hat die Entdeckung, dass der Vater der beiden Geschwister für die Auslandsabteilung des Staatssicherheitsdienstes der SED, der HVA also, als verdeckter Ermittler mit vielen verschiedenen konspirativen Identitäten in der Bundesrepublik wohl recht erfolgreich tätig war, noch etwas rein Anekdotisches. Doch als sie dann schildert, wie dieser Mann in seiner Aggressivität Hand an seine beiden kleinen Kinder anlegt, und sie brutal und schmerzhaft schlägt, regelmäßig wie ein Quartalssäufer, da ist man als Leser mehr als nur betroffen. Man erschrickt regelrecht. Und genau in diese Stimmung hinein platziert Geipel ihre Erkenntnis, dass dies keineswegs ein sozialer Einzelfall war, sondern eine soziale Bestandsaufnahme für ein ganzes Milieu der DDR, nämlich jener Schicht, die an ihrem sozialen Aufstieg in der DDR jahrzehntelang gearbeitet hat. Das betrifft mehr als nur eine Generation der DDR-Bürger. Und diese Erfahrung macht einmal mehr deutlich, dass wenn wir von Aufarbeitung sprechen, es um mehr geht, als nur die politische Geschichte der DDR, sondern ihre Verschränkung mit den familiären und privaten Lebenserfahrungen. Denn es ist immer ein Märchen gewesen, dass der Alltag in der DDR losgelöst von den politischen Verhältnissen betrachtet werden könne, dass es jenseits der diktatorischen Wirklichkeit ein von der SED freies privates Leben gegeben habe, das schön und harmonisch gewesen sei. Die Realität ist komplizierter als das man so einfach zwischen privat und politisch trennen könnte.

 

Der Großvater, Vater des Vaters war Stadtkommandant in Riga, jener Stadt im Baltikum das über eines der größten Ghettos verfügt hat. Er legt darüber keine Rechenschaft ab. Und die Grossmutter war eine nationalsozialistische Funktionärin, die ihrer Enkelin mit dem Spruch auffiel: „Hitler war wenigsten ein Mann mit Glanz“. Ihren DDR-Konsum führte sie anstandslos, korrekt, sauber, ordentlich.

 

Die 68er im Westen Deutschlands haben ihre Eltern mit Fragen und Vorwürfen traktiert. Das mag anstrengend gewesen sein, und manchmal ungerecht, und dennoch unverzichtbar und läuternd. Im Osten ging das nicht. Im Osten gab es die Jugendweihe, es gab die Herrschaft der Kommunisten, die im III. Reich zu den Opfern des nationalsozialistischen Unrechtsstaates zählten, die ihr Opfertum zu instrumentalisieren verstanden, und dem Versuch nicht widerstanden haben, die ganze nationalsozialistische Geschichte nur zu einem Zweck zu verwenden, nämlich um die Bindungen der DDR-Bevölkerung an den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR zu verstärken. Das mag lange gezogen haben. Ines Geipel macht deutlich, dass das für die Generation der 70er und 80er Jahre immer weniger galt. Und fatalerweise führte die Emanzipation von der SED-Diktatur im Zuge deren kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bankrotts, zu einer Verharmlosung, wenn nicht gar Rennaissance der nationalsozialistischen Geschichte. Denn wenn man den Kommunisten nichts mehr glauben konnte, dann war vielleicht ihre Opfergeschichte auch eine politische Legende.

Wie dem auch sei, der Bruder geht in Fragen der eigenen Familiengeschichte einen anderen Weg als die Autorin. Er will verdrängen, „kreativ“ verdrängen, wie er das nennt. Darüber entzweien sich die beiden. Das ist traurig und verhängnisvoll. Sie finden immerhin wieder zusammen; der Fluch der Verstrickungen in die diktatorischen Verbrechen der Eltern- und Großelterngeneration der über den beiden Geschwistern liegt, hat nicht das letzte Wort. Aber das ist nicht selbstverständlich. Überhaupt nichts ist selbstverständlich.

 

Ines Geipel macht klar, wie sehr diese Art von Verstrickungen, die sie an und in ihrer Familie erfährt weiteres Unheil mit sich bringt, wenn man sich nicht bewusst davon freimacht. Doch das geht eben nur durch Aufarbeitung, und die ist quälend und schmerzhaft. Aber man muss zu seiner Geschichte stehen, wie ein Historiker unlängst sagte. Es hat eben keinen Sinn von Schlussstrich zu faseln, und zu verlangen, dass mal ein Ende sein muss mit der Artikulierung des schlechten Gewissens angesichts der Verbrechensgeschichte in unserem und durch unser Land. Und das gilt eben nicht nur politisch und gesellschaftlich, sondern es gilt auch persönlich. Wir kommen nicht drumherum. Auch zur Familiengeschichte muss man stehen, man muss den Fallstricken und den Verstrickungen geraden und festen Auges in Gesicht sehen. Nur so von ihren fatalen Folgen befreien.   

 

Zum Schluss, da ist der Bruder bereits gestorben geht Ines Geipel auch auf die Notwendigkeit der politischen Aufarbeitung der beiden Diktaturen in Ostdeutschland ein. Sie hält sie für möglich und machbar, aber auch für schwierig. Im Grunde scheint sie nicht zu erwarten, dass die ostdeutsche politische Elite sich dem wirklich stellt. Diese Einstellung teilt der Rezensent. Zu sehr ist die ostdeutsche Parteienlandschaft in ihrer eigenen Verstrickungsgeschichte mit der SED-Diktatur und den Instrumentalisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit verbunden. Was ist die „Linke“ anderes als die alte SED? Und was ist die Tradition der CDU und FDP mit ihrer Blockparteigeschichte eigentlich im Kern anderes als eine Geschichte der Anpassung an verbrecherische Diktatur, die man glaubte nicht verändern zu können, sondern nur zu überwintern. Doch überwintern kann ich nur, wenn der Winter nicht zu lange dauert. Der in der DDR hat über 40 Jahre gedauert, da konnte niemand in seinem Keller bleiben. Und eine private Lösung des politischen Problems war auch für die vielen Ausreiser nicht möglich, denn die Geschichte klebt an einem wie eine zweite Haut. Die nimmt man mit und weiss manchmal gar nicht, wer man eigentlich ist.

 

Manches, was Ines Geipel schreibt, erscheint mir zu theoretisch zu sein; allzugerne bedient sie sich sozial-psychologischer Erklärungsmuster, die sie dann auch gleich noch etwas pauschalisierend ganzen Generationen unterstellt. Das kann nur selten nachvollzogen werden, und bedarf einer intensiven intellektuellen Durchdringung, ohne dass diese Erklärungen dadurch plausibler werden. Damit baut die Autorin leider Hürden im Verständnis ihres so wichtigen Themas, der Erklärung von Hass und Gewalt im Osten auf, auch wenn sie damit den Zeitgeist bedienen kann. Doch gerade zum Ende des Buches findet sie wuchtige und stimmige Schlussfolgerungen zum Umgang mit den rechtsextremen Tendenzen in der ehemaligen DDR:

 

In der DDR; jenen Regionen, die wir heute Ostdeutschland nennen,  hat es Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit immer gegeben. Wer die ostdeutsche Gesellschaft freier und offener, und damit friedlicher und lebenswerter machen will, der muss diese Erfahrungen und Traditionen offen benennen. Das heisst eben auch, sich nicht alleine von der Opfer-Geschichte eines Lebens unter den harten Bedingungen der SED-Diktatur beeindrucken zu lassen, sondern auch den Aspekt der Selbstverantwortung gegenüber sich, der Gesellschaft und der Geschichte zu benennen. Da kommt manchmal Schmutz hoch. Es ist das Verdienst von Ines Geipel, davor nicht zurückgeschreckt zu haben. Und es ist ihr gelungen, die Perspektive aufzuzeigen, wie wir da herauskommen.

 

 

Die Besprechung ist eine Auftragsarbeit für den neuen Band (2020) des Extremismus-Jahrbuches von Backes und Jesse, TU Chemnitz