Jubiläumsveranstaltung zum Gründungsakt Grundgesetz

 

Fest der Demokratie

 

Veranstaltung Wiesloch zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes

 

 

VHS Wiesloch, Kulturforum Südliche Bergstraße in Kooperation mit der Europa-Union Rhein-Neckar, Gert Weißkirchen

Die Deutsche Teilung im Spiegel des Grundgesetzes

 

·        Im der Präambel des Grundgesetzes stand bis zum 3. Oktober 1990 der schöne Satz: „Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war.“. Das, was wie eine harmlose Zustandsbeschreibung daherkommt, war tatsächlich Verheißung und Fluch zugleich.

 

·        Ich habe mich als Ostdeutscher, besser als DDR-Bürger immer davon angesprochen gefühlt, dass da jemand solidarisch war mit uns Ost-Deutschen - eingesperrt in die politischen Verhältnisse der DDR -, jemand, dem bewusst war, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik nicht das ganze Deutschland verkörpert, dass es da ein ganzes Land, eine ganze große Gesellschaft gab, die nicht selbstbestimmt entscheiden konnte, und dass sich im Westen jemand für uns mitverantwortlich fühlte. Wir waren nicht vergessen, nicht einfach unserem Schicksal überlassen. Jemand handelte im Bewusstsein, dass wir dazugehörten, aber nicht dabei sein konnten. Und deshalb hatte man versucht, für uns, für die Ostdeutschen mitzuhandeln. Das versprach, dass wir dereinst dazu gehören sollten, wenn es denn mal so weit sein sollte.

 

·        Doch dieses Versprechen enthielt auch eine Kehrseite, und sollte eine fatale Wirkung sowohl im Osten wie im Westen Deutschlands entfalten:

 

·        Im Westen war dies der Anspruch, ja im eigentlichen Sinne sogar eine Hybris, dass man für die Ostdeutschen handeln konnte. Daraus folgte eine Selbstüberschätzung, die sich zum Schluss gar nicht mehr vorstellen konnte, dass die Ostdeutschen überhaupt zu eigenem Handeln in der Lage sind. Schlimmer noch, man war im Westen nicht mal mehr bereit, anzuerkennen, dass wir Ostdeutschen den Schlüssel für die Lösung der Deutschen Frage in der Hand gehalten hatten, und dass wir ihn auch genutzt hatten.

 

·        Im Osten wurde dies zu einem Ruhekissen, auf dem sich die Diktatur leichter ertragen ließ. Der Westen hatte zu helfen. Ihm traute man das zu, von ihm erwartete man das, von ihm fühlten sich die Ostdeutschen vertreten und identifizierten sich mit ihm. Nichts verdeutlichte diesen Anspruch mehr als der Ruf der Demonstranten, die zum ersten Besuch eines Bundeskanzlers in der DDR, 1970, nach Erfurt aufgebrochen waren: „Willy Brandt, regier Du unser Land.“

 

·        Die Lage in der DDR war hart. Das Problem der SED-Diktatur, das ja ein Problem der sowjetischen Besatzung war, konnte ohne Moskau nicht gelöst werden. Aber selbst mit ihm war das eine für die meisten unlösbar scheinende Aufgabe. Und so wurde die Bundesrepublik zur Ersatzwirklichkeit, in die man sich flüchten konnte, medial und real und in der politischen Fantasie. Und so wurde die Herausforderung der politischen Realität in der DDR reduziert auf ihre westdeutsche Perspektive, in die man flüchten konnte, wenn es denn in der DDR gar nicht mehr ging. Millionen machten das. Aber eben nicht nur durch ihre ganz eigene Form der ständigen Ausreise, sondern auch in ihren Träumen, die zwar im Laufe der Jahrzehnte immer mehr verblassten, um dann doch im Moment des Mauerfalls explosionsartig wieder aufzuflammen.

 

·        Doch die reale Wirklichkeit der Bundesrepublik, ihre politischen Kämpfe, ihre demokratische Wirklichkeit als Anker ihrer Modernisierung, das sah man in der DDR nur am Rande, das war mehr eine Quelle der Besorgnis als des Stolzes auf demokratische Leistungsfähigkeit. Der politische, der gesellschaftliche, kulturelle und technologische Erfolg, ja, das wurde respektiert und bewundert. Aber seine verfassungsmäßigen Grundlagen wurden nur selten reflektiert. Nicht das Grundgesetz war für die meisten Ostdeutschen der Grund für ihre Bewunderung, sondern die daraus entstehenden Folgen. Das war fatal, und das sollte schlimme Folgen haben.

 

·        Die Ostdeutschen, wie die Westdeutschen ja auch, waren ein geteiltes, ein deformiertes Volk. Während die einen sich stellvertretend für die anderen, als für alle handelnd wähnten, sahen sich die anderen als klein und winzig, nicht demütig, sondern benachteiligt, minderwertig an. Das eine stimmte so wenig wie das andere. Weder waren die Ostdeutschen minderwertig, noch waren die Westdeutschen ihre Stellvertreter.

 

Die Angst um das Grundgesetz im Einigungsprozess

 

·        Als die Ostdeutschen die Mauer öffneten hatten sie auf jeden Fall nicht das Grundgesetz im Sinn. Sie kannten nicht einmal den Artikel 23. Wer kannte den schon?

 

·        Das kam alles erst im November, Dezember 89, und beherrschte die nationalen und internationalen Debatten. Und das hatte mit dem Grundgesetz im Grunde nichts zu tun, sondern mit dem Zusammenhang einer demokratisierten, selbstbestimmten DDR und unserer nationalen Perspektive. Denn was machte es für einen Sinn an einem Staat, dieser DDR festzuhalten, die einzig deshalb entstanden war, weil die Siegermächte sich nicht auf eine einvernehmliche Lösung der Frage der Zukunft Deutschlands einigen konnten, und lieber den Kalten Krieg begannen, als ihren Teil Deutschlands der jeweils anderen Seite zu überlassen. Mit Selbstbestimmung hatte die DDR nichts zu tun. Sie war nicht das Produkt der ostdeutschen Selbstbestimmung, sondern eines stalinistischen Machtwillens. Warum sollte man daran festhalten? Wenn es aber keinen Grund gab, an der DDR festzuhalten, was gab es dann für einen Grund gegen die Deutsche Einheit?

 

·        Und deshalb sahen sich die Deutschen einer gänzlichen neuen Herausforderung gegenübergestellt: der Gestaltung der Deutschen Einheit. Für die Ostdeutschen hieß das, wie man erhobenen Hauptes, stolz ohne anmaßend zu sein, die belastende Vergangenheit abschütteln konnte, ohne das eigene Leben, und das was man – selbst unter den widrigen Bedingungen der DDR - selbst geschaffen hatte, worauf man stolz sein konnte, womit man sich identifizierte, dabei gleich mit auf den Müllhaufen zu werfen.

·        In dieser Situation kam Artikel 146 in den Blick: eine gemeinsame verfassungsgebende Versammlung, in der Ost- wie Westdeutsche gemeinsam, einvernehmlich und gleichberechtigt die politischen Grundlagen eines gemeinsamen deutschen Staates aus der Taufe heben konnten.

 

·        Im Westen Deutschlands muss es Kräfte geschüttelt haben vor Angst, ihr schönes westdeutsches Eigenprodukt: das Grundgesetz könnte durch den hinzugekommenen Teil der Deutschen, den Ostdeutschen Schaden nehmen. Jetzt zeigte sich, wozu sich der westdeutsche Stellvertreteranspruch „für jene mitzuhandeln, denen das eigene Handeln versagt blieb.“ ausgewachsen hatte. In dem Moment, wo die Ostdeutschen mitbestimmen konnten, durften sie nicht mehr. Das sollte sich auch in vielen anderen Dingen des politischen Alltags zeigen, mit die schlimmsten Auswüchse konnten wir in der Hauptstadtdebatte Bonn oder Berlin erleben. Wenn man sich in Westdeutschland fragt, woher die ostdeutsche Stärke der AfD rührt, hier ist einer davon.

 

·        Doch zur Realität gehört auch, dass eine gemeinsame verfassungsgebende Versammlung kaum wesentliche Verbesserungen des GG hätte bewerkstelligen können. Es gab sicher hier und da ein paar Details, aber der Anspruch mit einem gemeinsamen großen neuen Entwurf Deutschland eine neue zukunftsmäßige Grundlage geben zu können, war im Grunde nicht einlösbar. Das Grundgesetz war schlicht zu gut, um es komplett zur Disposition hätte stellen zu müssen. Die Änderung des Beamtenrechts, oder der Umweltschutz allein hätten das nicht gerechtfertigt, und die rein appellativen Artikel sind zu Recht bis heute umstritten, weil sie keine einklagbaren Rechte beinhalten.

 

·        Das alles hat den Sieg der Rechten am 18. März 1990 nicht tangiert. Art. 146 riss die Ostdeutschen nicht vom Hocker. Das Entschuldungsangebot von Kohl gerichtet an die Adresse der Ost-CDU: „Ich ziehe einen Schlussstrich unter die Zeit Eurer Kollaboration mit der SED-Diktatur, Ihr sollt, Ihr dürft neu anfangen. Ich brauche Euch. Überlasst die Aufarbeitung der Vergangenheit den Linken. Da ham se was zu tun.“ hat gestochen. Und die Arbeiter in der DDR waren ohnehin der Meinung, dass die CDU am ehesten ein ostdeutsches Wirtschaftswunder herbeizaubern könne. Ein weiterer Grund für die ostdeutsche Stärke der AfD.  Doch das ist ein anderes Thema.

 

·        Zum Schluss ging die DDR sang- und klanglos unter, ein bisschen mehr Budenzauber hätte ich mir schon gewünscht.

 

Epilog

 

·        1998 gab es eine Gedenkveranstaltung des Bundestages zu 150 Jahre Paulskirchenversammlung. Ein Verfassungsrechtler würdigte die Leistungen der Formulierungen im ersten gemeinsamen deutschen Verfassungsentwurf von 1848/49. Und er hob hervor, wie sehr das Grundgesetz von 1949 auf die Grundrechte damals Bezug genommen hatte, dass diese im Grunde ausformuliert waren, und sich auch heute noch, 150 Jahre später auf der Höhe der Zeit befanden. Es war das erste Mal, dass ich begann mich stolz zu fühlen, auf die Leistungen der Paulskirchenversammlung, die viel besser waren, als man sie gemeinhin immer ansah: Versager und Scheiterer. Das waren sie nicht. Sie waren nicht gescheitert. Sie hatten die Grundlagen für unser Grundgesetz gelegt. Das ist eine große Leistung. Die bleibt. Aber sie hatten die Revolution nicht siegreich zu Ende geführt. In der Tat, darin waren sie gescheitert.

 

·        Es war Ferdinand Lassalle, der der Frage des Scheiterns von 1848/49, der bürgerlichen Revolution in Deutschland auf den Grund gegangen war. Die Revolutionäre hatten es versäumt, als sie es gekonnt hatten, das Militär der absolutistischen kleinen Fürstentümer zu entwaffnen. Diesen Fehler haben wir 1989/90 nicht wiederholt. Wir haben die Staatssicherheit gegen deren erbitterten Widerstand entwaffnet. Das war keine Selbstverständlichkeit.

 

·        Und wir haben die DDR auf eine demokratische Grundlage gestellt, auch ohne neues Grundgesetz, ohne verfassungsgebende Versammlung. Wir haben die DDR in die demokratische deutsche Geschichte wieder zurückgeführt, besser in sie hineingeführt. Das führte zu Auflösung der DDR.

 

·        Das Grundgesetz, dessen Makel nicht ist, dass es von den West-Alliierten beauftragt und genehmigt wurde, war das Werk jener, die wussten, dass für Deutschland gilt, was heute für alle Staaten gilt: unsere Geschichte hat nur eine Zukunft, wenn sie rechtsstaatlich und demokratisch ist.

 

 

·        Und wenn wir uns diese Tradition bewahren können: das Gestalten unserer Geschicke auf rechtsstaatlicher und demokratischer Grundlage, im Sinne unseres Grundgesetzes, braucht uns nach menschlichem Maß vor unserer Zukunft nicht zu grauen.