Das Leben ist stärker

Karl- Heinz Bomberg

 

Seelische Narben 

Freiheit und Verantwortung in den Biografien

politisch Traumatisierter der DDR 

 

Mit einem Vorwort von Andreas Maercker

 

Psychosozial-Verlag

Gießen, 2021

 

broschürt

156 Seiten 

Das Leben ist stärker – als der Tod, als das Leiden, als Verfolgung und Unrecht. Wer diesen Glauben an das Leben wiedergefunden, oder überhaupt gefunden hat, der hat den wichtigsten Schritt zur Überwindung von Enttäuschung, von Trauer, in seiner drastischsten Form von Traumatisierung, wie von Verfolgung und Unrecht bereits hinter sich. 

 

Dieser Glauben lässt sich auf die unterschiedlichste Form finden: schon durch ein bisschen Freude im Leben, sogar schon ein bisschen Glück, etwa dem Zusehen von Kindern bei Ihrem Spiel, bei ihren ersten Schritten, erst recht, wenn es die eigenen sind. Er lässt sich finden in der Liebeserfahrung, selbst bei unglücklicher Liebe, wie jeder weiß, der das hinter sich hat. Er ist auch ein religiöser, christlicher Auftrag: „Ich lebe,“ sagt Christus, „und ihr sollt auch leben.“. Und genau das ist das Geheimnis dieses Glaubens: das Leben erfährt, wer lebt. 

 

Diese Glückserfahrungen, um die es sich dabei handelt, kann der Mensch in seinen dunkelsten Stunden machen. Ich erinnere mich dabei immer wieder gerne an die Schilderungen im Archipel Gulag von Solschenizyn, der die Stärke des Lebens in den Gesprächen der Häftlinge, in ihrer persönlichen Stärke, ihrer Widerstandsfähigkeit gegen Repression und Terror, die sich auch unter den schlimmsten Bedingungen behaupteten, die ihre Würde nicht preisgaben. Das betrifft nicht jeden Häftling, aber es gab und es gibt sie, diese Häftlinge und diese Erlebnisse. Nicht die Haft und das Leiden sind die Voraussetzungen für das Leben, aber sie können das Leben und seine Würde nicht zerstören, im Gegenteil, sie können sich dabei behaupten; sie sind stärker als Unrecht, Peinigung und Tod. 

 

Und es gibt sie bei einem anderen der großen russischen Romanciers, Wassili Großmann, der auf wunderbare Weise beschrieben hat, das selbst schlimmste Unterdrückung und Zwangsarbeit in den Ausgeburten des totalitären Denkens der Nazis und Stalins, und für Großmann gibt es da überhaupt keinen Unterschied, den Menschen nicht dabei hindern können, sich seiner Verantwortung zu stellen, ja in seiner Verantwortung überhaupt erst Mensch zu sein. Denn da verweigert sich der KZ-Häftling der befohlenen Zwangsarbeit für den Bau der Vergasungsanlagen in Auschwitz oder Majdanek. Er bezahlt mit mit seinem Leben dafür, weil er sich sagt, dass selbst unter den unwürdigsten Bedingungen wir Menschen füreinander verantwortlich sind und bleiben. Und er wollte nicht mitverantwortlich dafür sein, dass die Nazis Menschen vergasten und verbrannten. 

 

Ich behaupte, das ist Größe. Doch Größe schützt vor Schaden nicht. Traumatisierung, sagt Karl-Heinz Bomberg entsteht, wenn die Seele das eigene erfahrene Leid nicht mehr verarbeiten kann, und es abspalten muss, so dass, füge ich hinzu, es sich äußert in Psychosen, in Depressionen, in Krankheit oder Todessehnsucht. 

 

Dies kann jeden treffen, man kann sich mental noch so stark fühlen, plötzlich ist die Belastung, ist die Last, wiegt das niederschmetternde Erlebnis zu schwer; es gibt keine Garantie dafür, dass nicht bei jedem von uns, plötzlich ein Trauma offenbar werden kann. Wie gesagt, es muss nicht sein. Ich kann auch versuchen mich prophylaktisch zu schützen. Aber es gibt keine Garantie dafür, dass mich eine Depression, sogar eine langanhaltende über Jahre hinweg vom Leben trennt. 

 

Aber es gibt eine Fast-Garantie dafür, dass solche Traumata erzeugt werden. Und es gibt die spezifische Perfidie politischer Systeme, die fast sadistisch Freude daran zu haben scheinen, Menschen so zu quälen, dass sie aus dem Kerker ihrer Traumatisierung manchmal ein Leben lang nicht mehr herauskommen sollen oder können. 

 

Ich erinnere mich gut daran, wie ich im Rahmen einer Reise meiner Enquete-AG der SPD-Fraktion nach Torgau und Mühlberg das erste Mal den Geschlossenen Jugendwerkhof (GJWH) Torgau besuchte, 1992 oder 1993 war das, und wir vor Entsetzen schwiegen, als wir dort in diesem Restgemäuer standen, das von dem alten Bau nur als Rudiment noch kündete, was uns aber völlig reichte, um uns ein Bild zu machen, und Gutzeit neben mir plötzlich sagte: „Kinder-KZ“. Genau das war es. 

 

Ralph Weber hatte sich da wahrscheinlich gerade aufgemacht auf seinem Weg durch die Instanzen unserer Gerichte. Ihm ist es zu verdanken, dass, erstmals wohl erst nach der Jahrtausendwende unser höchstes Gericht, das Bundesverfassungsgericht die Unterbringung in diesem GJWH Torgau als grundsätzlich menschenrechtswidrig eingestuft hat, wodurch er sich selbst rehabilitieren konnte, Anspruch auf die knappe Entschädigung erhielt, aber vor allem das System Spezialheime der DDR-Volksbildung, tatsächlich in den Fokus der Öffentlichkeit kamen, und all diejenigen, die wie er, dieses System durchlitten hatten, nun peu a peu und sukzessive sich den gleichen Anspruch, die gleichen Leistungen, die gleiche Anerkennung erstreiten konnten. 

 

Ralph Weber war als kleines Kind, als vier, fünf oder sechsjähriger schon in die Fänge dieses perfiden Heimsystems der DDR gekommen. Und er musste mehrere Male nach Torgau. Doch das System konnte ihn nicht brechen. Und er hat, und das kann man ihm nicht hoch genug anrechnen, seine Prozesse auf eigene Faust, im Wesentlichen ohne anwaltlichen Beistand durchgefochten. Das ist das was Bomberg meint, wenn er von Freiheit und Verantwortung als Symbolisierung seelischer Narben spricht. 

 

Das war eine Leistung. Seine, Webers Leistung. Und, so finde ich, sie wiegt mehr als Haftentschädigung oder Opferrente. Ohne, dass ich damit sagen will, sie seien überflüssig. Nein, sie haben ihren Ort und ihre Notwendigkeit. Aber sich selbst zu ermächtigen, sich die Freiheit zu nehmen, sich durchzukämpfen, sich der Verantwortung eines solchen Verfahrens zu stellen, und dann noch damit Erfolg zu haben, das kann keine noch so gut gemeinte öffentliche Anerkennung bewerkstelligen. 

 

Für Bomberg ist diese Art sich die Freiheit zu nehmen, und sich verantwortlich zu machen für die strafrechtliche Bewertung dieser Art der DDR-Volksbildung, ihrer Art der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit, ein wesentliches Mittel für die Überwindung, zumindest Linderung der eigenen aus politischen Gründen erlittenen Traumata. 

 

Doch dieses öffentliche Wirken ist nur die eine Facette dieses Begriffspaares von Freiheit und Verantwortung. Eine andere ist viel subtiler, persönlicher. Da ist man sich selbst persönlich und seinen Traumata gegenüber selbst verantwortlich. Und das beginnt damit, dass ich als Betroffener Ja sage zu meiner seelischen Krankheit. Dass ich mich nicht wehre, diese Krankheit anzuerkennen, als etwas was mir eigen ist, was in mir passiert ist, was mit mir passiert ist, als meine eigene Reaktion, als etwas was ich gemacht habe. 

Das ist nicht leicht. Denn für das Unglück, das mir widerfahren ist, bin ich nicht verantwortlich, es ist mein Schicksal. Aber dass ich das Schicksal als solches akzeptiere, dass ich aufhöre zu jammern und zu klagen: „Warum gerade ich?“ oder „Hätte der Kelch nicht an mir vorbeigehen können?“ dafür bin ich verantwortlich. Und das heißt, das erlittene Schicksal als Herausforderung zu begreifen.

 

Wir leben heute in Freiheit, aber das heißt eben nicht, dass wir allein entscheiden, was mit uns geschieht, heute nicht und nicht in alle Zeiten. Wir können weit mehr gestalten als früher, und dessen sollten wir uns auch bewusst sein, und diese Freiheit verteidigen, gegen jede Art von Anfechtung, aber wir sind nicht aus der Zeit gefallen. Schicksal ist etwas was zu uns gehört, genauso wie die Erfahrung des Bösen, das auch immer in unsere Zeit hineingehört, hineingehören wird. 

 

Bomberg fragt an einer Stelle, ob auch „Destruktion eine Motivation sein kann?“. Ja sie kann. Jeder Pädagoge weiß das, wenn er mit Schülern zu tun hat, die ihre Anerkennung aus der Störung, Zerstörung des Lerngeschehens beziehen. Und wenn das schon bei Kindern so ist, so gehört es auch zu unserem Erwachsensein. Es ist eine Falle, die uns das Leben selbst bereitet hat. Auch das Böse kann glücklich machen. Glückshormone fließen, wenn ich mich selbst bestätige, das kann im Guten wie im Bösen funktionieren. Glückshormone fragen nicht nach Zweck und Sinn. Sie haben ihre eigenen physiologischen Regeln. Auch Diebe, Mörder, Spitzel haben ihre Erfolgserlebnisse, und ich füge hinzu, eine Hilde Benjamin, ein Freisler hatten sie auch, aber Gnade denjenigen, die in ihre Fänge gerieten. Was ist mit den Mauerschützen, was ist mit den Polizisten, oder einfachen Wehrmachtssoldaten, die an den Judenerschießungen beteiligt waren, was ist mit den MfS-Offizieren, was ist mit den Bolschewisten, was mit den Kommunisten, die zu Stalinisten wurden, und selbst nach Stalins Tod immer noch in der Lage waren ihre Macht brutal aufrechtzuerhalten? Die Liste ist unendlich lang. 

 

Es hat keinen Sinn, an das Gute im Menschen zu glauben. Das ist ein Irrglaube, der mit unserer Natur nicht in Übereinklang gebracht werden kann. Aber wir Menschen können auch anders. Unsere Religionen, unsere Philosophie, unsere Kulturentwicklung, ja unsere Zivilisation legen von Menschenwürde, von Liebe, von Kreativität, von Mitmenschlichkeit, von Freiheit und Verantwortung füreinander genügend Zeugnis ab. Und unsere Geschichte ist insgesamt gesehen kein Rückschritt, aber sie ist von Fallen, Irrtümern und grausamen Fehlern gepflastert. Doch diese haben nicht das letzte Wort. Unsere Kultur hat ihre Freiheitsgeschichte, mit ihren Wurzeln überall auf der Welt, und ihrem europäischen Verlauf, auf den wir immer stolz sein können, und wer ihr folgt, wer ihre Schätze heben will, wer ihren Traditionen folgt, der wird ein lebenswertes Leben führen können. Auch wenn er dafür Opfer bringen muss. 

 

Und diese Freiheitsgeschichte endete nicht bei Lenin, da schon gar nicht. Lenin war eine Falle, zuerst die Falle der eigenen Überheblichkeit, die sich selbst für am klügsten hielt, gepaart mit Sendungsbewusstsein, das sich nicht die Mühe der Überzeugung, der demokratischen Willensbildung unterziehen wollte, sondern glaubte Fortschritt sei auch mit Mitteln der Gewalt, der Unterjochung ja des Terrors möglich. Was für ein schrecklicher Fehler!

 

Wir haben heute andere Fehler. Denkverbote, Sprachtabus sollen wieder die Gesellschaft besser machen, dabei sind es nicht die Begriffe, die das Denken prägen, sondern es ist umgekehrt. Das Denken prägt die Begriffe; Begriffe drücken nur das Denken aus. Wer Begriffe verbietet, ist nicht besser, als ein Arzt der Krankheits-Symptome bekämpft, statt ihre Ursachen. 

 

Und der Stolz auf die eigene Freiheitsgeschichte kann schon wieder in die Falle der Überheblichkeit führen. Und von da an ist es nur ein kleiner Schritt zur politischen Anmaßung. 

 

Nein, wir sollten unsere Fehler nicht dämonisieren, erst recht nicht tabuisieren, wir sollten sie klarsichtig aufklären, und sie zu begreifen versuchen.

 

Ob es zum Beispiel vernünftig ist, dem Umweltbewusstsein der Autofahrer mit Sitzblockaden oder Brückenabseilen aufzuhelfen, scheint mir doch sehr fraglich zu sein. Nur weil ich mir selbst ein stärkeres Klimabewusstsein zurechne, bin ich noch lange nicht gezwungen, andere zu zwingen mich anzuerkennen.  

 

Und es wird immer Punkte geben, da ist eine Gesellschaft alles andere als eine harmonische Veranstaltung. Denn nachzuvollziehen ist ja, dass viel Patienten sowohl in ihren Selbstzeugnissen wie auch von Bomberg geschildert durch die Maßnahmen der Pandemiebewältigung eine Retraumatisierung erfuhren, dass ihre psychosomatischen Symptome zunehmen, genauso wie ihre depressiven Störungen. Das kann ich verstehen. Und doch habe ich die Maßnahmen des Staates insgesamt gesehen nachvollzogen. Sicher es gab da vieles, was man nur mit Humor nehmen kann, und es gab handfeste Fehler. Aber vor allem hat unser Staat hier schlicht und einfach nur seine Aufgabe der Daseinsvorsorge wahrgenommen.  Das was wir auszuhalten hatten, war kein Vergleich zu dem, was wir in der DDR auszuhalten hatten. 

 

Und deshalb komme ich zum Schluss noch mal auf das Buch von Bomberg, einen seiner Berichte zu sprechen: 

 

Für Herr M. auf S.63 ist es eine Frage der Verantwortung weiterhin gegen seine Depressionen anzukämpfen, für sich für seine Familie für seine Frau und seine Kinder und allen Freunden, die es gut mit ihm meinen. Und daran ist insofern vieles richtig, als dass Depressionen zwar eine Krankheit sind und man sich Hilfe holen kann dagegen, dass man aber andererseits, auch wenn man Hilfe hat, diese Depressionen überwinden will, man es wollen muss, sonst gelingt das nicht. Es ist ein notwendiger Aufarbeitungsprozess, der dem Depressiven bevorsteht, wenn er seine Krankheit, wenn er sein Leben, wenn er seine Familie wieder gewinnen will. Er ist sich also selbst gegenüber verantwortlich wie auch allen seinen Mitmenschen. Und genau das ist das Problem das viele unserer Zeitgenossen gar nicht im Blick haben. Die durch eine Diktatur traumatisierten, beschädigten, verletzten Menschen tragen ihre Traumata bis heute mit sich herum. Mit dem Ende der Diktatur sind die Traumata nicht vorbei. Die Diktatur lebt in ihren Opfern, den Traumata ihrer Opfer fort. Die Diktatur nimmt Rache an ihrem Opfer. Besser noch: sie kann von ihrem Opfer nicht lassen. Es gefällt ihr, zu quälen, obwohl sie schon lange tot ist. Sie quält über ihren eigenen Tod hinaus. Sie hat Besitz von ihrem Opfer genommen und diesen Besitz will sie behalten. So lange wie ihre Opfer sich noch quälen ist die Diktatur nicht wirklich tot. Und so lange hat unsere Gesellschaft diese Diktatur noch nicht abgelegt. Eigentlich hat noch nicht mal der Historisierungsprozess eingesetzt. Denn das, was vergangen ist, ist nicht tot; es ist noch nicht einmal vergangen (William Faulkner).