Gescheitert

Ich habe gelesen:

Sahra Wagenknecht

 

Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt

 

Campus Verlag Frankfurt/New York

 

 

2021 Leinen gebunden 345 Seiten 

Dieses Buch hätte ich von alleine nie in die Hand genommen. Ich bin voreingenommen. Sarah Wagenknecht war nie mein Fall. Ihr Schicksal habe ich immer nur von weitem beobachtet. Es hat mich zwar nicht kaltgelassen. Doch versprochen von Ihr habe ich mir nie etwas.

 

Aber was soll man machen. Rezensionsaufträge erreichen mich nicht mehr eben häufig. Ich erfülle sie gerne. Also habe ich mich der Herausforderung gestellt. Man kann immer etwas lernen. Und jedes Buch ist ein Abenteuer.

 

Doch dieses Buch war es nicht wert. Gelegentlich hat es mir sogar schlechte Laune gemacht. Wenn sich die Autorin mit der ihr eigenen Selbstgewissheit von Fakten nicht eben stören lässt, wenn sie sich munter ihre Welt schönredet bzw. häufig auch schlecht, und wenn die ewigen Wiederholungen etwas Phrasenhaftes, penetrant ideologisches bekommen, dann fördert das die eigene Lesemotivation nicht wirklich.

 

1.

 

Immerhin ist auch positives zu vermelden. Denn es gibt in diesem Buch mindestens 2 Stellen, die amüsant bzw. wirklich bedenkenswert erscheinen. Zum einen ist das ihre Abrechnung mit Cancel Culture, die sie zwar als solche kaum beim Namen nennt, aber dennoch treffend, äußerst sarkastisch beschreibt. Etwa wenn sie einer bestimmten Ausprägung der Identitätspolitik unterstellt, statt sich um die Gleichstellung von Minderheiten zu bemühen, Privilegien für diese einzufordern. Und natürlich hat sie nicht Unrecht, wenn sie konstatiert, wie die neue Politik der Sprachdiktate, die bei uns in den letzten Jahrzehnten um sich gegriffen hat, und die natürlich insbesondere im linken Spektrum, um mal bei der alten Klassifizierung von links und rechts zu bleiben, um sich gegriffen hat, einen nicht unerheblichen Teil der Wähler gerade auch des linken Spektrums in die Arme der Rechtspopulisten getragen hat. Doch neu ist dieser Gedanke nicht. Aber bei Sahra Wagenknecht ist genau das der tragende Gedanke ihres ganzen Buches.

 

2.

 

Ich habe lange überlegt, was die eigentliche Intention dieses Buches ist. Anlass für eine kritische Bilanz hätte sie ja; sowohl sie persönlich als auch ihre Partei die Linke. Denn nach einer langen Periode eines nahezu unaufhaltsamen Aufstieges, ist nicht nur Sahra Wagenknecht als Vorsitzende der Bundestagsfraktion ihrer Partei gescheitert, sondern auch die Linke selbst, die inzwischen wieder um den Einzug in die Parlamente bangen muss. Und das hängt bei weitem nicht nur mit ihrer Haltung zu Russland und dem von Putin geführten Krieg gegen die Ukraine zusammen.

 

Und natürlich wäre es vernünftig zu fragen, was der Wendepunkt der Erfolgsgeschichte der ehemaligen SED gewesen ist, und welchen Anteil Sahra Wagenknecht am Knick in ihrer Karriere sich selber zurechnen müsste.

 

Sahra Wagenknecht scheint sich tatsächlich diese Frage vorgelegt zu haben. Aber sie hat sie nicht an sich selbst gerichtet. Schon der Titel ihres Buches enthält ihre Antwort. Es sei die wachsende Schicht der Lifestyle-Linken, der Moralisten, der selbstgerecht auftretenden Menschen, Mitbürgern, linksliberal nennt sie sie, die vom Leben der einfachen Menschen keine Ahnung hätten, aber die ganze Gesellschaft mit ihren Werturteilen überziehen, und die dazu beitragen würden, dass die Wähler der Linken in die Arme der Rechtspopulisten getrieben würden.

 

3.

 

Doch das ist natürlich ein Punkt, den sich Sahra Wagenknecht selbst vorwerfen müsste. Denn die von ihr beschriebenen Ausgrenzungsmechanismen, das Arbeiten mit apodiktischen Urteilen, das Aufrichten von Tabus, und das einfache Aufteilen unserer Welt in Gut und Böse, gerecht und ungerecht, reich und arm, das alles sind politische Instrumente, die die Autorin selbst perfekt beherrscht, und die sie nun – offenbar im innerparteiliche Richtungsstreit – gegen ihre Widersacher und Gegner richtet. Kurz: sie hat die Schuldigen entdeckt, die am Niedergang der Linken schuld sind. Und der ganze erste Teil ihres Buches beschäftigt sich nur mit der Erklärung dieses Niedergangsprozesses.

 

So gesehen, scheinen ihr die Vertreter der selbstgerechten Lifestyle Linken schlicht demagogisch überlegen gewesen zu sein. Sie, die Unterlegene im innerparteilichen Machtkampf tritt jetzt einfach nach. Vielleicht hat sie diesen Kampf aber auch noch nicht aufgegeben. Vielleicht hofft sie, wieder zurückzukommen, an die Schaltstellen der Macht in ihrer Partei. Aber das scheint nicht ihre einzige Option zu sein.

 

4.

 

Denn in ihrer Analyse der Wanderungsprozesse der Protestwähler weg von der LINKEN hin zu den Rechtspopulisten, entwickelt sie viel Verständnis für das Wahlverhalten der Wähler der AfD. Ihre Ansichten und die der AfD sind gelegentlich von erschreckender Nähe. Und sie spricht die Wähler der AfD von jeglichem fremdenfeindlichen Ressentiments frei, sieht sie nur als Ergebnis der Stärke der AfD und nicht als deren Voraussetzung.

 

Und das dürfte ein schrecklicher Fehler in ihrem Analyse sein. Allzu leicht ist es PEGIDA und Höcke, aber auch der ganzen AfD gelungen, in großen Teilen der Bevölkerung fremdenfeindliche Ressentiments zu mobilisieren und sie damit als Anhänger und Wähler an sich zu binden.

 

Das war schon das Problem der Wählerwanderungen weg von SPD und KPD hin zur NSDAP als Voraussetzung für die Machtergreifung Hitlers. Sicher gab es da auch andere weitere wichtige bedenkenswerte Voraussetzungen dafür, aber die Erklärungen der beiden Arbeiterparteien für diesen eklatanten Wählerwanderungsprozess blieben doch einseitig und mangelhaft. Und das lag daran, dass sie sich von ihrer marxistischen Ideologie nicht lösen konnten. Denn diese Ideologie führt alle gesellschaftlichen Phänomene auf die Klassengesellschaft zurück, sieht also in Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus lediglich die Folgen sozialer Unterdrückung, und das stimmt nicht. Natürlich bestand der Nationalsozialismus keineswegs nur aus Antisemitismus. Auch er artikulierte die sozialen Ungerechtigkeiten in der Wirtschafts- und politischen Ordnung der Weimarer Republik, und zwar in einer besonders aggressiven Weise. Aber er lieferte eben mit seinem Antisemitismus ein zusätzliches Erklärungsmuster, das die Arbeiterparteien weder so wiederholen konnten noch wollten. Und der NSDAP glaubten die Leute, wollten ihr glauben. Wir haben es hier mit ganz, ganz altem Denken zu tun, das die Kultivierung von Feindbildern an die Stelle tiefgreifender Analysen stellt, und das von den Nazis zu  einer ihr eigenen Perfektion ausgebaut wurde.

 

5.

 

Auf diesen Zusammenhang geht Sahra Wagenknecht gar nicht ein.  Stattdessen macht sie sich eine der Kernthesen der AfD zu eigen. Demnach müsse das Recht auf Sozialleistungen an eine Pflicht geknüpft sein, zuerst für diesen Sozialstaat Leistungen zu erbringen.

 

Dass Rechte und Pflichten sich gegenseitig bedingen, würde jeder unterschreiben. Aber wie alle Regeln gilt auch diese nicht absolut oder ausnahmslos. Denn das Recht auf Sozialleistungen ergibt sich auch aus Artikel 1 unseres Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, und also schon deshalb ein Sozialstaat sich darum bemühen muss, jedem einzelnen ein Leben in Würde zu ermöglichen, ganz gleich unter welchen Umständen er Bürger unserer Gesellschaft geworden ist. Zum anderen ist das aber auch ein Gebot des gesellschaftlichen Friedens, und von daher eine Sache der Vernunft. Wer kein Geld zum Leben hat, sich Hunger und Elend gegenübersieht, was hat der für eine Perspektive? Bevor Du verhungerst, klaust Du lieber. Das kann jeder verstehen. Die deutsche Sozialgeschichte kennt diese Phänomene zur Genüge. Und genau in dieser Falle ist Sahra Wagenknecht gemeinsam mit der AfD gefangen. Wer Flüchtlingen und Migranten die notwendigen Hilfsleistungen untersagt, mit dem Argument, sie hätten ja noch nicht eingezahlt in den Sozialstaat, der richtet diesen völkisch aus.

Nein Menschen sind Menschen, und wenn wir ihre Gastgeber sind, und womöglich ihr Heimatland werden, dann haben wir die menschliche, moralische, aber auch vernunftbedingte Pflicht, ihnen hier bei uns ein Leben in Würde zu ermöglichen. Das muss nicht jedem gefallen. Doch ihnen die notwendigen Sozialleistungen zu versagen, das würde unseren Sozialstaatsgedanken unterminieren, und das würde letztlich den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zerstören.

 

6.

 

Das ist nicht der einzige Punkt, den Sahra Wagenknecht mit der AfD gemeinsam hat. Dazu gehört auch die Kritik an den europäischen Institutionen, die als undemokratisch und bevölkerungsfern gebrandmarkt werden. Das Argument, dass die EU bei allen ihren Mängeln erheblich zum wirtschaftlichen Wohlstand in Europa beigetragen hat, dass sie unverzichtbar für den Frieden hier war, und dass die EU als einzige wirtschaftliche Großmacht in der Welt, auf jegliches imperiale Gehabe verzichtet, lässt Frau Wagenknecht nicht gelten. Das passt nicht in ihr Weltbild.

 

7.

 

Und das gehört zu den erstaunlichen Momentaufnahmen ihres Buches: die Lobpreisung des Nationalstaates und der sozialen Standards in den europäischen Nationalstaaten der 60er und 70er Jahre. Beides wird dem von ihr konstatierten Sozialabbau als alternative Vision gegenübergestellt. Sie, die einer Partei angehört, die vormals als SED die alte Bundesrepublik immer als imperialistisch und von ihrem Wesen her unsozial hingestellt hat, sieht plötzlich in ihr ein Vorbild für unsere aktuellen Erscheinungen eines vermeintlichen Sozialabbaus. Dabei war die alte Bundesrepublik überhaupt kein Nationalstaat. Dieses Kennzeichen ging ihr ja als deutscher Teilrepublik ab.

 

8.

 

Aber darum geht es Sahra Wagenknecht auch gar nicht. Ihr geht es um die bösen Unternehmer und ihren politischen Arm, um die Manchester-Kapitalisten und Chicago-boys, die lediglich versuchen, den Sozialstaat auszuhöhlen, um die Reichen noch reicher zu machen. Und das sei eben in den europäischen Sozialstaaten der 60er und 70er Jahre anders gewesen. Nun man kann sich die Welt schönreden. Aber ihre These hat einen Zweck. Und der durchzieht ihre ganze Politik.

 

9.

 

Das ist die Kultivierung des Protestes, der Empörung. Den benutzt und erzeugt sie, um in ihren Wählern jenen Zorn herauszukitzeln, der lediglich in den gesellschaftlichen und politischen Umständen unserer Zeit die entscheidende Ursache für die persönlich vielleicht als misslich empfundenen schwierigen Lebensumstände sieht. Und in die manch einer gerne flüchtet, wenn er sich seiner Verantwortung für sein eigenes Leben nicht stellen will, und wenn er sich von jeglicher Verantwortung für die gesellschaftlichen Zustände freisprechen will. Sahra Wagenknecht und mit ihr die Linke, wie vorher die PDS verdanken ihren politischen Erfolg diesem Protestverhalten vieler Wähler. Wagenknechts Botschaft lautet: Jede Stimme für die Linke ist eine gegen den Sozialabbau, und für eine bessere Gesellschaft. So leicht kann man es einem machen.

 

10.

 

Das hat lange verfangen. Doch ist dazu zweierlei zu sagen: Erstens haben Wagenknecht und LINKE ihre Wähler in dem Glauben gewogen, dass die Stimmabgabe für die PDS resp. Linke reichen würde, um die Welt gerechter zu machen. Genau das ist immer das politische Angebot der Linkspartei gewesen: Ihr dürft sauer sein über die empfundene Ungerechtigkeit, in der ihr glaubt, leben zu müssen. Wir kümmern uns schon darum, die Welt besser zu machen. Dafür gebt Ihr uns Eure Stimme, dann müsst Ihr Euch nicht mehr selber kümmern. Ihr habt Eure eigene Verantwortung schlicht an uns delegiert. Das heißt, die Linke, bzw. PDS hat eben nicht zur Aufklärung beigetragen, sondern die Leute in ihren Grenzen gelassen, ja sie hat davon profitiert, dass sie sie in ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wie Kant das nannte, belassen hat.

 

11.

 

Und natürlich ist Sahra Wagenknecht eine fleißige Ideologieproduzentin. Die Fakten, die Erfahrungen, Reformbedarfe, Veränderungen in der technologischen und wirtschaftlichen Welt spielen so wenig eine Rolle, werden so penetrant ignoriert, dass ich bei der Lektüre manchmal das Gefühl hatte, es bei ihr mit einer der Propaganda- und Ideologieproduzenten aus dem alten ZK der SED zu tun zu haben.

 

12.

 

Doch nun hat die LINKE in der AfD ihren Meister gefunden, und das ist der zweite Punkt. Die AfD ist einfach besser darin, den Protest der Leute für ihre eigenen politischen Zwecke, ihre Macht zu gebrauchen. Das Mittel, der AfD das Wasser abzugraben, wäre über die politischen Methoden der AfD aufzuklären. Doch das geht nicht, weil sich die LINKE damit selbst das Wasser abgraben würde. Denn man kann mit dem Beelzebub nicht den Teufel austreiben. Also versucht Sahra Wagenknecht schlicht die AfD in Sachen Demagogie in Volksverdummung wieder zu überholen. Dafür spricht sie die Wähler der AfD von jeglichem Irrtum frei, sie sieht in ihnen lediglich die Opfer des Sozialabbaus und der Lifestyle-Linken, die sie mit ihrer Demagogie in die Arme der AfD getrieben hat.

 

13.

 

Der zweite Teil ihres Buches: Ihr Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt ist noch schwächer als ihr erster. Es ist eine Art primitive Anthropologie – Romantik. Demnach sei Zusammenhalt und Gemeinsinn schon immer der wichtigste Kitt für das Leben der Menschen gewesen. Diese gelte es zu bewahren und wieder in den Mittelpunkt des politischen Lebens zu stellen. Diese Zeilen lesen sich, als hätte Sahra Wagenknecht noch nie etwas von unserer abendländischen Philosophie gehört, als sei sie nie mit der europäischen Freiheitstradition in Berührung gekommen, ganz zu schweigen von den christlichen Traditionen in Europa.

 

Ich bin weit davon entfernt, Gemeinsinn und Zusammenhalt zu entwerten. Doch das menschliche Wesen lässt sich darauf nicht reduzieren. Es ist immer auch ein Suchen nach neuen Ufern, ein kreatives Ausprobieren und Entwickeln neuer Perspektiven und Horizonte. Es ist auch die Fähigkeit des Menschen sich seine eigene Welt neu zu denken und zu erschaffen. Und es ist das Begreifen, dass unser Nachbar und Nächster, nichts anderes will, als wir selbst, und den wir deshalb respektieren, und anerkennen sollten, um unserer selbst willen.

 

Eine Partei mag sich darauf reduzieren wollen, Feindbilder zu produzieren und Macht durch Protest zu generieren. Doch das ist kein Zeichen von politischer Leistungsfähigkeit. Da nützt das ganze Besetzen von schönen Worten wie Gemeinsinn und Zusammenhalt nichts.

 

Es ist sicher kein Zufall, dass sich Sahra Wagenknecht in ihrem ganzen Buch nicht ein einziges Mal mit der Frage auseinandersetzt, wie durch Reformen oder Veränderungen von Institutionen konkret etwas verbessert werden kann. Das ist nicht ihr Thema, wie sie sich auch nirgendwo mal mit dem Reformbedarf und Grenzen des europäischen Sozialstaats auseinandergesetzt hat.

 

Wir erleben auf der großen politischen Bühne einen Fight zwischen Rechts- und Linkspopulisten um die Protestwähler. Ich habe nicht das Gefühl, dass Sahra Wagenknecht mit ihrem Buch einen Beitrag der Linken zum Sieg über die Rechtspopulisten geleistet hat. Zurzeit ist es eher so, dass AfD und LINKE gemeinsam das gleiche Problem haben: die präventive Inschutznahme von Putin, der mit seinem Überfall auf die Ukraine das außenpolitische Weltbild beider Parteien hat einstürzen lassen. Übrig bleiben die Wähler dieser beiden Parteien mit ihrer Angst vor russischen Atombomben, und vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges. Solange dieser Krieg tobt, treten die innenpolitischen Aspekte des Protestes erstmal zurück. Doch wie lange hält das vor?

 

Es ist eigentlich nicht mein Problem, welche der beiden populistischen Parteien im Kampf um die Wähler das Rennen machen wird, oder ob sie beide zum Opfer werden. Dann wird es eine neue Partei geben, die sich die Proteststimmung in der Bevölkerung, die ein Ergebnis der Verweigerung eigener Verantwortung ist, zunutze machen wird. Mein Problem ist mit den Mitteln der Aufklärung sowohl das Wesen von LINKE und AfD zu analysieren als auch Analysen und Konzepte zu finden, die unsere Welt besser machen.